2.5.3.6. Montaigne kritisiert Glauben und Kirche, insbesondere des Christentums

So sollten wir uns jetzt intensiver mit den an vielen Stellen seines Buches vorfindbaren Passagen befassen, in denen er wichtige religionswissenschaftliche und philosophische Beiträge geleistet hat: suchen wir im bisher so charakterisierten "Teig" nun nach den "Rosinen"! Auch diese hat M. frei von Fachtermini in der Alltagssprache formuliert. M. hat dies zu einer höchsten Kunst entwickelt, und er hatte gute Gründe dafür, wie wir noch sehen werden. Man muss daher M.s entscheidende philosophische Aussagen erst einmal aus solchen Zusammenhängen herauslösen und die alltagssprachliche Formulierung wenigstens einen Schritt weiter abstrahieren, um den philosophischen Gehalt auch für den erkennbar werden zu lassen, der darauf ausgerichtet ist, Philosophie mit einer abstrakten, abgehobenen Sprache zu verbinden. Es lohnt sich, diese Mühe der Verarbeitung auf sich zu nehmen.

Beginnen wir mit dem, was M. an sich selbst beobachtet und über sich selbst ausgesagt hat. Er zögerte nicht, in seinen Essais ein umfangreiches autobiografisches Material auszubreiten, darunter auch viel Anekdotisches aus dem eigenen Lebenskreis, und gerade diese Anekdoten, meint H. Friedrich (S. 160), seien die besten. Es ist aber keine Altergeschwätzigkeit, die ihn etwa dazu gebracht hätte, "Dönekes" von sich selbst zu erzählen. Er wendet sich vielmehr ganz methodisch seinem eigenen aktuellen Erleben und seiner Erlebensgeschichte zu, als Erforscher seiner selbst, des ihm allein zugänglichen Beispielsfalles (n = 1!), über den er viel besser Bescheid weiß, als über das Erleben anderer Menschen, und den kein anderer Mensch so gut kennen kann wie er selbst. Diese Möglichkeit versucht er zu nutzen, im Bemühen um größtmögliche Offenheit, oder wie H. Friedrich es ausdrückt, in einer angespannten Redlichkeit, "die nur das von sich sagt, was sie als augenblicklichen Inhalt des Ich vorbringen kann" (S. 13). Sein Interesse am Registrieren und Beschreiben des eigenen Erlebens lässt ihn dieses so wiedergeben, wie es spontan aufgetaucht ist, mit seinen positiven und auch negativen Seiten. Er scheut sich nicht, auch sehr persönliche Angelegenheiten zu erwähnen, bis zu den Intimitäten der Liebe und der Sexualität; er schreibt auch über seine Müdigkeit, über seinen erfreulicherweise regelmäßigen Stuhlgang, über sein oft erbärmliches Leiden an unerträglichen Schmerzen wegen seiner Nierensteine und über seine gar nicht immer heldenhaften Gefühle angesichts drohender Verwundung und Tod in kriegerischen Auseinandersetzungen, also auch über "peinliche" oder auch nur "schäbige" Themen, über die "man" sich eigentlich nicht so frei zu äußern pflegte. M. will auch darüber aufrichtig berichten können, und er kündigt es in seinem Vorwort "An den Leser" an: "Dieses Buch, Leser, gibt redlich Rechenschaft ... Ich will ... dass man mich hier in meiner einfachen, natürlichen und alltäglichen Daseinsweise sehe..., denn ich stelle mich als den dar, der ich bin..." (S. 5). Das ist kein bloßes Versprechen, das etwa den Leser neugierig machen sollte. M. bleibt bei diesem Vorhaben auch dann, wenn ihn seine Redlichkeit Überwindung kostet, wenn sie ihn in einem negativen Licht erscheinen lassen könnte. Ohne Zweifel wollte M. offen sein, soweit wie möglich, d.h. soweit es nicht sein Leben kostete! Wir werden später sehen, dass es nur die Lebensbedrohung durch die Inquisition war, die ihn zu wenigen - und dazu noch einigermaßen durchsichtigen - Lügen veranlasst hatte. Ansonsten war er redlich um Offenheit und Ehrlichkeit bemüht, auch in seinen Gedanken über das Altern, über Krankheit und Sterben und über den Tod. Dazu meint H. Friedrich: "Seine Redlichkeit bekennt die Trauerschatten, die die Todesnähe ins Lebensgefühl wirft" (S. 267). Bemerkenswert ist hierbei, wie M. angesichts des Leidens, des Sterbens und des Todes auf alle christlichen Tröstungen und Gnadenmittel verzichtet (Friedrich, S. 274) und sogar ein Weiterleben nach dem Tode ausschlägt. Er war frei von Unsterblichkeitshoffungen, weil er die Endlichkeit des Lebens als Positivum sah: jede eschatologische Todesangst fehlte bei ihm (Friedrich, S. 273). Auch "die letzten Dinge" bewegten ihn kaum, weder die Erschaffung der Welt, noch ihr Untergang und die damit verbundene Erlösung der an Gott glaubenden und genügend reuigen Menschen. Er hatte noch nicht mal Angst vor dem ewigen Höllenfeuer! Vor allem glaubte er nicht an die Auferstehung des Leibes, diesen zentralen Inhalt christlicher Religion.

M. konnte natürlich nicht riskieren, solche "gotteslästerlichen" Auffassungen offen kundzutun. Er nutzte deshalb die Autoren der Antike als Sprachrohr für seine eigene Meinung, und er gab diesen Autoren breiten Raum, um sich mit ihren Worten über die Unsterblichkeitshoffnung lustig zu machen. Ein paar Beispiele für solch antichristliche Ironie: "... (es ist) zu allen Zeiten üblich gewesen, die Sorge um uns selbst über dieses Leben hinaus weiterzuhegen und sogar zu glauben, dass die Gunst des Himmels ... unseren Gebeinen noch hilfreich sei ... dafür gibt es ... viele Beispiele aus der Antike ..." (S. 13) und etwas bissiger auf Seite 30: "... (einer, der am Galgen gehängt werden sollte) antwortete seinem Beichtvater, der ihm verhieß, dass er noch am gleichen Tage mit unserm Herrn Christus zu Tische sitzen werden: 'Geht bitte für mich hin, ich faste lieber!' " und auf der gleichen Seite: "... den Mann, der ihn ermahnte, sich Gott zu empfehlen, fragte er: 'Wer geht denn hin, es ihm auszurichten?'", und in die gleiche Kerbe haut eine andere Anekdote, diesmal aus der Antike: "Als man den Philosophen Antisthenes in die Orphischen Mysterien einführte und der Priester ihm erklärte, dass alle, die sich dieser Religion weihten, nach ihrem Tod der köstlichen ewigen Güter teilhaftig würden, versetzte er: 'Und du - warum stirbst du denn nicht selbst?' " (S. 222) und schließlich am deftigsten: "Diogenes wiederum antwortete ... einem Priester noch viel unverblümter ..., der ihn ebenfalls zum Beitritt in seinen Orden mit dem Versprechen zu überreden suchte, ihm würden dann die Güter der anderen Welt zuteil: 'Du willst mir also weismachen, so hervorragende Männer wie Agesilaos und Epaminondas erwarte ein unseliges Leben im Jenseits, während dir Schafskopf die ewige Seligkeit bevorstünde, nur weil du Priester bist?'" (S. 220). Scheinbar ernsthafter befasst sich M. mit der Frage, wie sich im Sterben und Tod der Übergang vom irdischen Leben zum ewigen Leben im Jenseits vollziehen könnte. Er schreibt über "Menschen, die all ihre Geisteskräfte anspannend, zu beobachten suchten, wie die Überfahrt ins Jenseits beschaffen sei; aber sie sind nicht zurückgekehrt, um uns hierüber zu berichten" ... und er zitiert Canius Julius:" 'Mir ist der Gedanke gekommen, dass ich mich am besten mit aller Kraft auf die Beobachtung vorbereite und rüste, ob ich in dieser blitzschnell vorübergehenden Todessekunde einen Wohnungswechsel der Seele wahrnehmen kann und ob sie ihren Auszug zu fühlen vermag, damit ich, falls ich etwas Derartiges erfahre, und mir eine Rückkehr vergönnt sein sollte, meinen Freunden hierüber berichten kann' " (S. 184). Offenbar ist es bei dieser Absichtserklärung geblieben, denn M. schweigt sich darüber aus, ob Canius Julius nach seinem Tod seinen Freunden etwas berichten konnte, und was er ihnen darüber erzählt hat.

H. Friedrich (S. 273) betont, dass es bei M. keine Unsterblichkeitsidee gibt, weder im christlichen noch im platonischen Sinne: "Schon die antiken Unsterblichkeitsmythen sind ihm so gleichgültig, dass er sie nur ... als ... spekulative Wahnbildungen des erkenntnisohnmächtigen Menschen behandelt". Und weiter: "Bei solchen Stellen ist nicht daran zu zweifeln, dass sie zugleich kritische Spitzen gegen die entsprechenden christlichen Lehren enthalten" (S. 107)... "M. selber möchte den Tod deuten und bestehen aus dem antiken Verständnis des Todes. Er will sich allein aussetzen mit dem eigenen Tod, in der Erwartung, dass Tod und Natur ihren Einklang miteinander finden können" (S. 274). Dem scheint entgegenzustehen, dass M. bei seinem eigenen Sterben und Tod die Sakramente der katholischen Kirche in Anspruch nahm, aber er tat es wohl nur seinen Hinterbliebenen zuliebe und um irgendwelchen Scherereien vorzubeugen. Denn als M. noch gesund und munter war, äußerte er sich anders darüber: "Ich glaube, dass in Wirklichkeit die ... schauerlichen Veranstaltungen, mit denen wir den Tod umgeben, uns mehr Angst einjagen als er selbst: ... brennende Kerzen, das Bett von Ärzten und Priestern umlagert - kurz, um uns herum nur Graus und Schrecken" (S. 52). Seine eigene Überzeugung hat er ganz lakonisch formuliert: "Was einmal zu sein aufgehört hat, ist nicht mehr ... ", und vorher, bei schwerer Erkrankung und im Sterben, gilt es, wie Sokrates beherzt in den Tod zu gehen, "nicht weil seine Seele unsterblich, sondern weil er sterblich war" (S. 535). Diese Zitate belegen in meiner Sicht ganz eindeutig, dass M. nicht an ein Weiterleben nach dem Tode glaubte. Sein Unglaube negierte aber nicht nur diese für das Christentum so zentrale Heilswahrheit, sondern er verwarf den christlichen Glauben insgesamt, sowohl in seinen jesuanischen ("christlichen") als auch in seinen mosaischen (jüdisch-monotheistischen) Aspekten.

Seine schärfste, weil grundsätzlichste Kritik am Monotheismus äußert M. (genauer: lässt er seine antiken Gewährsleute äußern!) im Hinweis auf die Widersprüchlichkeiten zwischen der Allmacht, der Allwissenheit und der Allbarmherzigkeit oder Allgüte des einen Gottes, also in Überlegungen zur Theodizee, zur Rechtfertigung Gottes. Er legt auch den Finger auf das Missverhältnis zwischen einerseits der allmächtigen Schöpferkraft des Gottes, der die Menschen so geschaffen hat, wie sie sind, also als fehlbare Wesen mit ihren guten und bösen Taten, und andererseits seiner Strenge, mit der er an eben diesen Untaten Anstoß nimmt und sie an den Menschen rächt, wo doch ein Wink seines göttlichen Willens genügte, den Menschen von jedem Fehltritt abzuhalten! (S. 260). Und er zitiert Plinius ("dieser alte Spötter"), dass es für den Menschen kein geringer (also ein guter!) Trost sei zu sehen, "dass Gott nicht alles kann; ... er kann weder die Sterblichen unsterblich machen noch die Verstorbenen wieder lebendig; noch kann er bestimmen, dass ein Mensch, der gelebt hat, nicht gelebt habe; ... Gott eignet über das, was war, keine größere Macht, als es vergessen zu lassen ... " und "Gott könne nicht verhindern, dass zwei mal zwei vier ist" (S. 264). M. distanziert sich zwar von solch einem "albernen Beispiel", aber er zitiert es noch in seiner letzten Ausgabe der Essais (damit es gelesen und verstanden wird!).

Es ist wohl kein Zweifel möglich, dass M. nicht an Gott glaubte. Aber glaubte er vielleicht an Götter? Immerhin kritisiert M. in seiner "Apologie für Raymond Sebond" den anthropomorphen Charakter vieler Gottesvorstellungen. Solche Götter (anscheinend auch der jüdisch-christliche) seien dadurch uns ähnlich. M. entrüstet sich darüber: "Der Mensch ist zweifellos von Sinnen. Keine Milbe könnte er erschaffen, Götter aber erschafft er dutzendweise ... Kurz, nach Maßgabe seiner selbst baut der Mensch sich die Gottheit samt ihren Wesenszügen zusammen ... Welch ein Muster, welch ein Modell! Vergrößern und dehnen und strecken wir unsere Eigenschaften so weit es uns gefällt! Bläh dich auf, armseliger Mensch, ... " (S. 265). Er belegt diese Einschätzung vorsichtshalber unter Zuhilfenahme antiker Zitate und zitiert dann genüsslich den Vorsokratiker Xenophanes: "Scherzhaft pflegte Xenophanes deshalb zu sagen, dass die Tiere, falls sie Götter erfänden (wahrscheinlich tun sie es), sie gewiss nach ihrem Bilde formten und hierauf noch stolz seien - wie wir" (S. 266). Das Schaf hätte demnach einen Gott mit Schafskopf!

In vielen Passagen seiner Essais relativiert M. den religiösen Absolutheitsanspruch des Christentums. Er meint, "dass wir unsere Religion nur auf unsere Weise und aus unseren eigenen Händen annehmen (und nicht anders, als die anderen Religionen angenommen werden): ... weil wir sie im Lande unserer Geburt als üblich vorfanden ... Ein anderer Himmelsstrich ... könnte uns ...einen entgegengesetzten Glauben einpflanzen. Christen sind wir im gleichen Sinne, wie wir Perigorden oder Deutsche sind" (S. 220). Von Apoll lässt sich M. belehren, "dass die Religion nur die eigene Erfindung (der Menschen) zum Zusammenhalt ihrer Gesellschaft darstelle, (und) die wahre Gottesverehrung sei für jedermann jene, die er an dem Ort, wo er sich aufhält, in Brauch sehe!" (S. 289). Und schließlich riskiert M. eine den christlichen Glauben lästerlich relativierende Ironie: "So steht in jedem Gemeinwesen an der Spitze ein Gott, der wahre in jenem, das Moses dem Volke Judäas nach dem Auszug aus Ägypten errichtete, ein falscher halt in allen Übrigen" (S. 314). Kein Kommentar nötig! M.s Beitrag zur Religionswissenschaft (vor allem in der von ihm so genannten "Apologie für Raymond Sebond") relativiert die verschiedenen Arten von Gottes- und Götterglauben zu so etwas wie "Sitten und Gebräuche fremder Völker" und so verwundert er sich immer wieder: "dies alles können Menschen glauben und tun!" Die jüdisch-christlich-islamischen Religionen und Philosophien werden davon nicht ausgenommen, auch sie sind nur einige Spielarten unter vielen anderen. Für M. ist der christliche Glaube nicht weniger seltsam und verrückt als der Glaube an andere Götter, und der christliche Kult ist vergleichbar den Riten anderer Religionen. Von da bis zur modernen Kulturanthropologie und Religionswissenschaft ist dann nur noch ein kleiner Schritt. Bei gleichem methodischem Ansatz weiß man allerdings heute etwas mehr über diese Phänomene, aber nichts grundsätzlich Anderes!

Doch zurück zu M.s Religionskritik. Schon weil M. sich mit den einfachen Leuten, unter denen er aufwuchs, solidarisch fühlte und weit entfernt davon war, sie zu verachten, konnte er sich an vielen Stellen seiner Essais über ihre Gutgläubigkeit aufregen: " ... wenn ich von ... Prophezeiungen künftiger Dinge, von Verhexungen, Zaubereien und dergleichen Geschichten ... reden hörte, ... überkam mich Mitleid mit dem armen Volk, das solchem Unsinn auf den Leim ging" (S. 97). Vor allem die Wunder haben die Menschen seiner Zeit beeindruckt, und M. ist solchem schlichten Wunderglauben offenbar immer wieder begegnet, wenn auch in kritischer Distanz, denn er hielt nichts von Wundern: "Mir dröhnen die Ohren von tausend Geschichten wie dieser: Drei Leute haben den Mann an jenem Tag im Orient gesehen, drei andere am nächsten im Okzident - zu der und der Stunde, an dem und dem Ort, in der und der Kleidung! Ich würde dergleichen mir selbst nicht glauben. Wie viel naturgemäßer, wie viel wahrscheinlicher finde ich es, dass drei (H. S.: von den sechs) Menschen lügen, ...Und wie viel naturgemäßer als die Mär, dass einer unter uns, von einem fremden Geist besessen, auf einem Besenstiel leibhaftig durch seinen Schornstein hinausgefahren sei, scheint mir die Erklärung, dass der hier aus dem Gleis geratne (H. S.: verrückte!), irrlichternde eigne Geist des Menschen den Verstand aus seiner Verankerung gelöst und mit sich fortgerissen habe!" (S. 519). M. versucht also, Wunder auf natürliche Phänomene zurückzuführen, so etwa auf Täuschungen: "So gaukelt unser Blick uns oft seltsame Erscheinungen in der Ferne vor, die sich in nichts auflösen, sobald wir uns ihnen nähern" (S. 518), und er geht mit psychologischem Scharfblick der Genese des jeweils einzelnen Wunderglaubens nach und stellt fest: "Es ist erstaunlich, aus welch nichtigen Anfängen und belanglosen Anlässen solch berühmte Wunder gewöhnlich entstehen" (S. 518). Alles weitere verläuft in der Art einer Massensuggestion, und ohne einen solchen Begriff zu verwenden oder selber zu prägen, beschreibt er den damit gemeinten Vorgang sehr genau: "Ich habe zu meiner Zeit das Entstehen vieler Wunder gesehen ... Anfangs gebiert der Irrtum einzelner den Irrtum aller, dann gebiert der Irrtum aller den Irrtum jedes Einzelnen. Von Hand zu Hand wandernd, nimmt das Ganze Gestalt an und stattet sich immer reicher aus, so dass der entfernteste Zeuge schließlich näher unterrichtet ist als der nächste, und fester überzeugt der zuletzt als der zuerst Unterrichtete: ein natürlicher Wachstumsprozess. Jeder, der etwas glaubt, hält es für ein Gebot der Nächstenliebe, auch andere davon zu überzeugen, und zu diesem Zweck scheut er sich nicht, seiner Geschichte so viel Selbsterfundenes anzufügen, wie er erforderlich hält, um den Widerstand jener zu überwinden, die er bekehren will ... Vom Glauben an ein Wunder werden zuerst die Unverständigen ergriffen; von da an breitet er sich kraft der Zunahme von Zahl und Alter der Zeugnisse auf die Verständigen aus" (S. 517). Auch diesen fällt es dann schwer, dem Wunderglauben zu widerstehen und "eine behauptete Tatsache rundheraus zu bestreiten; denn unter den Leuten, die einem vornehmlich schwer zu glaubende Dinge einreden wollen, gibt es kaum welche, die nicht beteuerten, sie hätten sie mit eigenen Augen gesehen, oder nicht Zeugen anführten, deren Autorität unsren Widerspruch im Keime erstickt" (S. 517). Wer will dann so "grob und rechthaberisch" sein, so etwas zu bezweifeln! Nach Meinung von M. entstehen viele Fehlurteile auch daraus, "dass man uns Furcht vor dem Eingeständnis unsrer Unwissenheit beibringt und wir daher alles hinzunehmen gehalten sind, was wir nicht widerlegen können. Über jegliche Sache spricht man in einem dogmatischen Ton, der keinen Einspruch duldet" (S. 518).

Ähnlich kritisch sieht M. die Weissagungen und Prophezeiungen. Sie haben nach ihm etwas zu tun mit der wahnsinnigen Neugierde unserer Menschennatur, "die ihre Zeit vergeudet, künftige Dinge im Voraus mit Beschlag zu belegen, als ob sie nicht genug damit zu tun hätte, die gegenwärtigen zu verkraften ... "(S. 26). Solche Neugierde werde von den Propheten missbraucht, und dies sollte, meint M., als Betrug geahndet werden: "Müsste man (diejenigen), die daherkommen und uns mit der Zusicherung beschwindeln, sie besäßen eine außerordentliche, unsern Verstand übersteigende Fähigkeit, für die Nichterfüllung ihres Versprechens und die Unverfrorenheit ihres Betrugs nicht tatsächlich bestrafen?" (S. 112). H. Friedrich (S. 106) versucht, solche Auffassungen von M. in die geistigen Strömungen seiner Zeit einzuordnen: "Mit dem Bedürfnis des Spät-Renaissance-Moralisten, Täuschungs- und Wahnvorgängen auf die Spur zu kommen, ... rückt er ... die religiöse Erfahrung ab zum Material für die Erkenntnis" (der menschlichen Seele).

M. geht nicht so weit, den Urhebern von Wunderglauben und Zukunftshoffnungen in jedem Falle eine böse Absicht zu unterstellen, denn in manchen Fällen könnten sie selber noch verrückter sein als diejenigen, die ihnen Glauben schenken. So kommentiert H. Friedrich: "Der Mensch des späten 16. Jahrhunderts, der sich in Montaigne deutet, ... misstraut dem Heiligen oder Weisen als einer Abnormität" (S. 209). Es gibt unter den Propheten und Sehern sogar eine Tendenz und Praxis, sich bewusst in Zustände zu versetzen, in denen sie aus unsrer Realität entrückt sind. Das lässt M. fragen (und zwar vorsichtshalber bezogen auf die Philosophie, statt wie es treffender wäre, auf die religiöse Mystik): "Ist es nicht recht verwegen von der Philosophie, zu meinen, die Menschen brächten ihr Größtes hervor und kämen der Gottheit am nächsten, wenn sie außer sich und völlig von Sinnen seien? Wir vervollkommnen uns also, indem wir unsern Verstand betäuben und uns seiner berauben! Die beiden naturgegebenen Wege, ins Geheimkabinett der Götter zu gelangen und an der Vorausschau des Laufs der Geschichte teilzuhaben, sind also Raserei und Schlaf! Sich das vorzustellen ist doch lustig: Die Ausrenkung unsres Verstandes durch die Leidenschaften macht uns tugendhaft, seine Ausmerzung durch die Raserei oder den Schlaf, dieses Ebenbild des Todes, macht uns zu Propheten und Sehern!" (S. 283). Aber auch die Philosophen können sich in ihrem Spekulieren ins Irrationale versteigen: "Alles bis zum Äußersten getriebene Forschen verschwimmt im Ungefähr: Deshalb kommen die kindischsten und verstiegensten Phantastereien meist bei denen vor, die sich in der Erforschung der höchsten Dinge am weitesten vorwagen und so in den Abgrund ihrer vermessnen Erkenntnisgier stürzen ... "(S. 271). Auf der letzten Seite seiner Essais kommt er noch einmal darauf zurück: "Solch ins Jenseits entrückte Seelenzustände erschrecken mich wie unzugängliche und schwindelerregende Höhen", und einige Zeilen weiter sagt er es ganz drastisch: "Doch wir mögen auf noch so hohe Stelzen steigen - auch auf ihnen müssen wir mit unsren Beinen gehen; und selbst auf dem höchsten Thron der Welt sitzen wir nur auf unserm Arsch" (S. 566). Kann man es besser sagen?

Mit solch vernünftig-kritischer Einstellung war in der Zeit, in der M. lebte, nur in Ausnahmefällen zu rechnen. Die meisten Menschen nahmen hin, was ihnen als Aberglaube überkommen war oder was ihnen als zu glaubende Wahrheit aufgegeben wurde. Tief bedauert M. die Leichtgläubigkeit, Verführbarkeit und Manipulierbarkeit der Unwissenden und Ungebildeten. M. beschreibt, wie sich die Leute das Blaue vom Himmel herunter lügen und versprechen lassen und beklagt die "Urteilslosigkeit und Verführbarkeit des Volkes, die es, den betörenden Wohlklang der Redekunst in den Ohren, so manipulierbar machen... "(S. 155). Es sind nach seiner Einschätzung eher die "Unverständigen" (S.517), die "breite Masse" (S. 256), "Kinder und Greise" (S. 221), die für solche Versprechungen (und Drohungen!) anfällig sind: "Deshalb werden die Kinder, das Volk, die Frauen und die Kranken am häufigsten an der Nase herumgeführt" (S. 97). Das gilt übrigens nicht nur für die Fälle, in denen kleine Gauner und Bauernfänger die Leichtgläubigkeit dieser Leute ausnutzen, sondern auch bei Berufen von höherem Ansehen (S. 387), womit M. neben den Ärzten wohl auch die Priester meint, denn er schreibt an anderer Stelle ganz offen: "Aus den einfachen Gemütern von geringer Wissbegier und Bildung macht man gute Christen, die aus Ehrfurcht und Gehorsam schlichtweg glauben und sich an die kirchlichen Gesetze halten" (S. 157). Und in einem Seitenhieb sowohl auf die protestantischen Sektierer als auch auf die Inquisition ruft er aus: "Wie viele hat es gegeben, die sich klaglos für Meinungen braten und rösten ließen, die sie von anderen übernommen hatten und von denen sie nicht das Geringste begriffen und verstanden!" (S. 358).

M. verurteilt vor allem die machtpolitische Ausnutzung solcher Leichtgläubigkeit: "Selbst die meisten freien Menschen überantworten um geringster Vorteile willen (H. S. : auch für bloße Versprechungen!) ihr Sein und Leben fremder Verfügungsgewalt" (S. 227), und mit diesen Worten macht sich M. ganz eindeutig die Sicht seines Freundes La Boetie zu eigen. In nicht nur gespielter Verzweiflung fragt er: "Findet sich unter denen, die sich erst einmal in solch erbärmliche Knechtschaft begeben haben, auch nur einer, der nicht genau so jede Art von Betrug hinnähme und sich rückhaltlos wem auch immer auslieferte, der ihm unverschämterweise Heilung verspräche?" (S. 387). Ich möchte hier offen lassen, ob hier vom heilenden Arzt, vom errettenden Führer oder vom erlösenden Heiland die Rede ist, für M. würde das auch keinen großen Unterschied ausmachen, etwa auch im folgenden Zitat: "Ich habe zu meiner Zeit schier unglaubliche Beispiele einer grenzenlosen, blinden Bereitwilligkeit der Völker gesehen, ihr Glauben und Hoffen von ihren Herren beliebig dorthin führen und verführen zu lassen, wo es diesen dienlich war - unberührt davon, dass hundertmal Enttäuschung auf Enttäuschung folgte und von den ihnen vorgegaukelten Wahnbildern eins nach dem andern zerplatzte" (S. 510).

M. fragt sich natürlich, wie so etwas zustande kommen kann und befasst sich in einigen seiner Überlegungen (oder denen seiner von ihm zitierten Gewährsleute!) mit Fragen der Religionspsychologie. Er macht deutlich, wie die Religionen (auch die christliche!) die Gläubigen über ihre Sinne ansprechen und anrühren, nämlich mit der Verwendung von Weihrauch und Wohlgerüchen (S. 158), mit Gepränge und feierlichen Ritualen, zur Andacht einstimmenden Hymnen (S. 257), durch die düstere Weite der Kirchen, die Vielfalt ihrer Ornamente, den erhabenen Schall und Hall der Orgeln (S. 295) etc. Selbst Skeptiker (wie M.) und Gegner, die eine Kirche mit Verachtung betreten, "fühlten in ihrem Herzen einen gewissen Schauder und eine Art Erschrecken, die sie in ihrer Ablehnung wankend machen" (S.295). Man vergleiche diese Formulierung mit dem "fascinosum et tremendum" nach R. Otto! Und enger bezogen auf den politischen Bereich meint M., es gebe "kein Gemeinwesen, das sich nicht einer Beimischung von feierlichem Brimborium und mancherlei Lügenwerk bediente ..., um (seine) Leute in ihrer gläubigen Hingabe zu bestärken" (S. 314). Darüber hinaus versucht man, den menschlichen Geist mit "der Ankündigung von zeitlichen und ewigen Strafen und Belohnungen zu zügeln und an die Kandare zu nehmen" (S. 279). So akzeptieren wir unsere Religion, "weil wir die Strafen fürchten, die sie den Ungläubigen androht, oder weil wir ihren Versprechen trauen ... andere Glaubenszeugen, ähnliche Verheißungen und Drohungen könnten uns auf dieselbe Weise einen entgegengesetzten Glauben einpflanzen" (S. 220).

Gerade die unbekannten Dinge seien "der wahre Tummelplatz für Betrügereien, ... da erstens alles Unbekannte für glaubwürdig gehalten wird" (nämlich wenn es mit genügender Überzeugungskraft vorgebracht wird!) "und zweitens (da das Unbekannte) uns der Mittel beraubt, die Betrüger zu widerlegen" (S. 115). Daher komme es auch, dass nichts so fest geglaubt werde wie das, worüber man am wenigsten weiß, (und ich ergänze: oder gar nichts wissen kann!). M. geht also davon aus, dass ein Nichts, eine Leere mit beliebigem Inhalt ausgefüllt werden könne. Die Unwissenheit der Zuhörer eröffne damit dem Umgang mit "verborgenen" Dingen "ein herrlich weites Feld und lasse (ihm) völlige Freiheit" (S. 115). Unter Berufung auf Autoritäten und die "eigene Wahrnehmung" des Zeugen "erfahren wir die Gründe und Ursachen von tausend Dingen, die es nie gegeben hat, und schlagen sich die Leute mit tausend Streitfragen herum, deren Für so falsch ist wie das Wider" (S. 517). Nach M. bietet den Exegeten bei der Auslegung solcher Wahrheiten ein leichtes Spiel "besonders der dunkle, vieldeutige und verstiegene prophetische Jargon, dem seine Urheber nie einen klaren Sinn geben, damit die Nachwelt den ihr jeweils passenden hineinlegen könne" (S. 27). M. denkt hier an alle möglichen Verkünder von Wahrheit: " ... niemand (gibt sich) sicherer ... als jene, die uns etwas vorfabulieren - Alchemisten zum Beispiel, Wahrsager, vereidigte Sterndeuter, Handleser, Ärzte und das ganze übrige Pack. Ihnen würde ich gerne, wenn ich mich nur traute(!), einen Haufen anderer beigesellen: all jene landläufigen Ausleger und Buchhalter der Absichten Gottes, die uns weismachen wollen, sie könnten die Ursache jeder Begebenheit erkennen und in den Geheimnissen des göttlichen Willens die uns unerfindlichen Beweggründe seines Wirkens finden ... Mit ein und derselben Kreide malen sie weiß und schwarz" (S. 116). M. lästerte über die Propheten und ihre verdunkelnde, jede nachträgliche Deutung der Schriftausleger erlaubende Sprache, weil er die Erfahrung gemacht hatte, "dass es keinen Aspekt und keine Sinndeutung gibt, ... die der menschliche Geist nicht in den Schriften fände ... bestehen doch so viele Auslegungsmöglichkeiten, dass ein findiger Kopf wohl kaum verfehlen wird, aus jeder Stelle ... einen Sinn herauszulesen, der seiner Sache dienlich ist" (S. 292). - Oh Gott, habe ich das vielleicht auf den letzten Seiten selber so getan, mit willkürlich herausgesuchten Zitaten von M.? Ich glaube nicht, denn M. schreibt so klar und eindeutig, dass er nicht nach Belieben interpretiert werden kann. Vielmehr ist es möglich, seine Äußerungen so zu verstehen, wie er sie selber gemeint hatte! Lesen Sie, liebe Leserin und lieber Leser, M.s Text einfach selber nach! - M. weist darauf hin, dass vor allem ein "wolkiger und mehrdeutiger Stil", der "dunkel und widersprüchlich" ist, sich dafür eignet, dass die in ihm hervorgebrachten Äußerungen "so lange durchs Sieb gerüttelt und geschüttelt werden können, bis ihnen die verschiedensten Sinngehalte abgewonnen werden können, die dem vom Autor hineingelegten konform, benachbart oder konträr seien, und alle gereichten ihm zur Ehre" (S. 292). Nach M. erlaubt die dunkle Sprache der heiligen Texte geradezu beliebige Interpretationen, von denen einige dann von der herrschenden geistlichen Autorität als wahr hingestellt und besiegelt, durch die Scheinlogik der Scholastik gestützt, mit kirchlich-staatlicher Macht durchgesetzt und mit dem Verbrennen von Büchern und von Menschen gegen andere Meinungen immunisiert werden.

Scharf kritisiert M. die Funktionalisierung der Religion, die Neigung der Mächtigen in Staat und Kirche, die Glaubensbereitschaft der Menschen auszunutzen und religiöse Rechtfertigungen zur Erhaltung oder Erweiterung der eigenen Macht einzusetzen. Das ist nichts Neues, denn die Götter werden schon seit jeher den Menschen dienstbar gemacht: "Die Machtmittel der Götter sind auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten: Einer heilt Pferde, einer Menschen; einer die Pest, einer den Kopfgrind; einer den Husten, einer diese Art Krätze, einer jene ... Einer ist für die Bordelle zuständig, einer für den Warenhandel: Jedem Gewerbe seinen Gott!" (S. 266) und "nach der jeweiligen Verrichtung tragen sie ihren Namen" (S. 267). Aber M. sieht auch, dass das eigentliche Problem erst dann aufkommt, wenn ein und derselbe Monotheos von den verschiedensten Menschen, vor allem auch von Streitgegnern, für sich in Anspruch genommen wird: "In Wirklichkeit rufen wir ihn (Gott) an, damit er sich mit seinem Beistand zum Komplizen unserer Vergehen mache; wir laden ihn ein zu ungerechtem Tun ... Der Geizhals bittet ihn um die unnütze und überflüssige Erhaltung seiner Schätze, der Ehrsüchtige um Siege und die Förderung seiner Leidenschaft; der Dieb möchte, dass er ihm hilft, die Schwierigkeiten und Gefahren zu überwinden, die sich seinen ruchlosen Unternehmungen in den Weg stellen, oder er sagt ihm Dank für die ihm gewährte günstige Gelegenheit, einem Passanten den Hals abzuschneiden. Am Fuß des Hauses, das die Soldaten erklettern und in die Luft jagen sollen, verrichten sie, Hoffen und Trachten voller Vergewaltigungslust, Raubgier und Grausamkeit, ihre Gebete" (S. 162). Ich möchte hier ergänzen (weil M. es wohl nicht so deutlich hätte schreiben können), dass dies schon sei alters her so gewesen ist: schon das Volk Israel bat Jahwe, den Herrn über alle Völker, um Unterstützung bei der Eroberung von Kanaan und bei der Ermordung, Vertreibung, Unterdrückung und Versklavung der bisherigen Bewohner dieses Landes, und nachdem sie das mit Gottes ausdrücklicher und massiver Hilfe geschafft hatten, dankten sie Ihm dafür von ganzem Herzen. Die Kanaanäer hatten Ihm nichts zu danken, sie wurden von diesem Gott sogar noch des Unglaubens bezichtigt! Dieser all-einzige Gott aller Menschen ist wohl doch nicht für alle Menschen da, sondern unterstützt sehr parteilich Sein auserwähltes Volk (genauer: immer gerade das Volk, das sich als von Ihm auserwählt ausgibt).

Auch in der Zeit, in der M. lebte, wollte jeder, auch jede Glaubensrichtung und jede Kriegspartei, über denselben Gott für sich verfügen können, etwa wenn beide Parteien einer kriegerischen Auseinandersetzung zu dem einen Gott beteten, Er solle sie unterstützen, und nicht etwa ihre Feinde, - die allerdings auch an diesen Gott glauben und Ihn inständig um Seinen Beistand bitten: "So (stellten) in unseren gegenwärtigen Religionskriegen jene, die beim Gefecht ... die Oberhand gewannen, diesen Glücksfall ... als sicheren Beweis hin, dass Gott ihre Sache billige; nach ihren späteren Unglücksfällen (H. S.: verlorenen Gefechten) aber versuchten sie sich darauf hinauszureden, es handele sich um Zuchtruten des himmlischen Vaters; selbst das Volk freilich, falls sie es nicht schon völlig unter ihrer Knute haben, dürfte ziemlich schnell merken, dass hier aus ein und demselben Sack zweierlei Mehl genommen ... wird" (S. 116). In diesem Sachzusammenhang berichtet M. von den Spaniern, die auf der Suche nach den Goldschätzen im südamerikanischen "Eldorado" den Indios vom Glauben an einen einzigen Gott und von der Wahrheit ihrer Religion erzählten, "die anzunehmen sie ihnen rieten, wobei sie mancherlei Drohungen einflochten. Hierauf erhielten sie folgende Antwort: ... jener Mann, der ihm (dem spanischen König) dieses Reich versprochen habe, scheine Zank zu lieben, weil er etwas, das ihm nicht gehöre, einem Dritten schenke, um ihn mit den alten Besitzern in Streit zu verwickeln... Was sie über einen einzigen Gott gesagt hätten, gefiele ihnen, doch den eigenen Glauben wollten sie nicht dagegen eintauschen, da er ihnen schon seit langem gute Dienste geleistet habe; im übrigen seien sie gewohnt, Ratschläge nur bei ihren Freunden und Bekannten einzuholen" (S. 457). Diese Passage ist in mehreren Hinsichten bemerkenswert: sie zeigt zum einen, dass M.s Sympathien eindeutig bei den klugen Indios lagen und nicht bei den goldgierigen und christlich missionierenden Spaniern. Zum anderen lässt sie die menschliche Reife der indianischen Verhandlungspartner erkennen, und zum dritten wirft sie ein bezeichnendes Licht auf das in der Geschichte der Menschen seit Mose immer wieder aufgegriffene Versprechen Gottes, seinen Auserwählten (dem Volk Israel, den Christen, den spanischen Konquistadoren etc. etc.) ein Land zum Besitz zu geben, das schon einem anderen Volk gehört, womit dieser Gott gleichzeitig dessen brutale Eroberung mit dem Deckmantel einer gerechten Sache, ja sogar eines "gerechten Krieges", legitimiert. Nicht nur ein ägyptisch-jüdischer Heerführer wie Mose und seine christlichen Nachfolger nutzten solche Möglichkeiten der Rechtfertigung eigener Aggressionen. Auch mehrere große Heerführer der Antike hätten, so M., um Vertrauen in ihre waghalsigen Pläne zu erwecken, ihren Soldaten gegenüber behauptet, irgendwelche Eingebungen, Wunderzeichen und Prophezeiungen hätten sie hierzu bewogen (S. 70). Auch die Religion der Beduinen habe gelehrt, "dass desjenigen Seele, der für seinen Fürsten sterbe, in einen anderen Körper wandere, der glücklicher, schöner und stärker sei als der erste; deshalb gaben sie ihr Leben viel bereitwilliger hin" (S. 314). M. kommentiert trocken: "Ein sehr nützlicher Gedanke, wie man sieht, mag er auch völlig aus der Luft gegriffen sein" (S. 314) und entlarvt damit solche Einstellungen kritisch als das, was sie für uns heute sind: schlichte Manipulationen auf der Basis eines Ethnozentrismus. Er verwendet solche Fachwörter, die uns heute geläufig sind, nicht in seinem Text, aber er beschreibt sehr genau das, was mit ihnen gemeint ist. So bemerkt er im Kapitel 31 "Über die Menschenfresser": "...jeder (nennt) das Barbarei ..., was bei ihm ungebräuchlich ist - wie wir ja in der Tat offensichtlich keine andere Meßlatte für Wahrheit und Vernunft kennen als das Beispiel und Vorbild der Meinungen und Gepflogenheiten des Landes, in dem wir leben: Stets findet sich hier die perfekte Religion, die perfekte Staatsordnung, der perfekteste Gebrauch der Dinge" (S. 111). Und "alles, was uns fremd erscheint, verurteilen wir, und was wir nicht verstehen" (S. 231). Und später noch etwas deutlicher: "Jeder meint, er verkörpere das Grundmuster der Natur, und so macht jeder sich zum Maßstab und Prüfstein für alles übrige: Verhaltensweisen, die nicht den seinen entsprechen, sind widernatürlich und abwegig. Welch hirnrissige Dummheit!" (S. 358).

Während die Auffassung, der eigene Glaube und das eigene Volk seien etwas Besseres, eindeutig ethnozentrisch ist, spricht M. noch einen anderen Aspekt an, den wir heute als Anthropozentrismus bezeichnen. M. kritisiert Gottes Parteilichkeit nicht nur, wenn dieser die Menschen der einen Gruppe allen anderen Menschen vorzieht, sondern er ist noch empfindlicher von derartiger Ungerechtigkeit berührt, wenn er die anthropozentrische Auffassung kritisiert, die ganze Welt sei "zum Dienst und Nutzen" des Menschen geschaffen, und diese erbärmliche und armselige Kreatur werfe sich "zur Herrin und Beherrscherin des Weltalls" auf (S. 222). M. fragt: "Was hat denn dieser arme Wicht an sich, dass er sich eine solche Bevorzugung verdiente? Aus eben dieser hohlen Einbildung ... sondert er sich als vermeintlich Auserwählter von all den übrigen Geschöpfen ab ..." (S. 223), und "kraft eines ... hirnverbrannten Stolzes (halten wir uns) für höherrangig als die anderen Lebewesen, und (sondern uns) von ihrer Daseinsweise und Gesellschaft ab ..." (S. 241). In diesen Überlegungen wird die Kritik an der ohnehin schon verwerflichen Idee der Auserwähltheit des Volkes Israel vor allen anderen Völkern dieser Erde von M. biologisch hellsichtig und überaus modern erweitert zu einer Kritik an der Auserwähltheit der Menschen vor den Tieren und Pflanzen. M. war in Europa vielleicht einer der ersten, die den Menschen als Bruder der Tiere sahen, ein erster "Grüner"!

Schließlich legt M. den Finger auch auf die Neigung der Menschen, die Welt und in ihr die Götter anthropomorph zu deuten: als ideale Verkörperung menschlicher Eigenschaften, von der Erde in den Himmel projiziert. Er nimmt sogar an, die Götter (und auch der Gott der Juden, Christen und Muslime ist davon wohl nicht ausgenommen) seien ursprünglich Menschen, nämlich Herrscher gewesen, die schon zu Lebzeiten oder nach ihrem Tod vergöttlicht wurden. So diskutiert er die Kritik an der Behauptung, die ägyptischen Götter Serapius und Isis seien ehedem Menschen gewesen, und zitiert zugleich den Einwand, dass "doch jeder wusste, dass sie es waren", und er bespricht weiterhin die Abstammung der Götter von den Sterblichen (S. 25). Damit korrespondiert ganz eng die Vergöttlichung von Menschen zu ihren Lebzeiten, z.B. im "Brauch vieler Völker, den aus ihren Reihen gewählten König heilig zu sprechen ... und als ob sie ihm mit der Königswürde zugleich Gottesmacht verliehen hätten, lassen sie ihn schwören, dass er (auch) ... dafür sorgen werde, dass die Sonne in ihrem gewohnten Glanz dahinrollt, die Wolken zur rechten Zeit regnen, die Flüsse ihren Lauf einhalten und die Erde alle Dinge hervorbringt, deren das Volk bedarf" (S. 471). So oder so weiß M., dass für die Menschen ihre Götter selber noch menschliche Züge tragen, und er kann damit tolerant-reserviert umgehen, wenn es freundlich-friedfertige Züge sind.

Anders sieht es für M. aus, wenn der Gott, seine Kirche und seine Gläubigen aus religiösen Gründen oder auch nur mit religiöser Rechtfertigung Grausamkeiten begehen. Seine Kritik richtet sich schon gegen menschliche Grausamkeit überhaupt: "... die Kunst, uns gegenseitig zu verstümmeln und umzubringen, scheint mir wahrhaftig kaum dazu angetan, den Neid der Tiere zu erwecken, denen sie fehlt" (S. 234). Die Menschen haben offenbar den Tieren voraus, immer neue gute Gründe für ihre Brutalitäten finden und vorweisen zu können, so etwa politische Rechtfertigungen: "Mich widern wilde Anfeuerungen aus allen Fugen geratener Seelen ... an: Entreißen wir den bösartigen Naturen, diesen Bluthunden und Verrätern, ihren Deckmantel der Staatsräson ...!" (S. 398). Dies gilt vor allem für die "zivilisierten" Völker, denn im Unterschied zu diesen ist unter den Menschenfressern "jedenfalls nie einer auf den abartigen Gedanken verfallen, Verrat, Treulosigkeit, Tyrannei und sinnlose Grausamkeit zu rechtfertigen ..." (S.113). Dagegen brachten es die christlichen Spanier fertig, "auf einen Schlag und im selben Feuer 460 Menschen" (nämlich Indios) "lebendig zu verbrennen, ... unschuldige Kriegsgefangene allesamt" (S. 458). M. weist darauf hin, dass die Eroberer sich dieser Untaten sogar noch rühmten und sie als Heldentaten ausposaunten, und er fragt: "Wollten sie damit etwa ihren der rechten Religion dienenden Glaubenseifer bezeugen?" (S. 458). In seiner Sicht übertreffen die Christen alle anderen an Feindeshass: "Unser Glaubenseifer tut Wunder, wenn er sich mit unserer Neigung zu Ehrgeiz und Habsucht, zu Verleumdung und Rachgier, zu Grausamkeit und Aufruhr verbindet" (S. 219). Er spricht hier aus eigener Erfahrung über Grausamkeiten in den - religiös motivierten - Bürgerkriegen Frankreichs: "Ich hätte, bevor ich es selbst erlebte, kaum geglaubt, dass es so blutrünstige Seelen geben könnte, die aus reiner Mordlust andere hinmetzeln, indem sie ihnen die Glieder ausreißen oder abhacken, und die sich den Kopf zerbrechen, um neue Foltern und Todesarten zu ersinnen ... Es ist der Gipfel der Grausamkeit, wenn der Mensch den Menschen ... tötet ... um der Augenweide willen" (S. 215).

Aber schlimmer noch als die individuellen Sadismen erscheint ihm deren religiöse Rechtfertigung, denn jede Grausamkeit gegen andere oder "fremde" Menschen könne religiös motiviert werden: "Ehrgeiz und Habsucht, Rachgier und Grausamkeit an sich und allein sind uns noch nicht angriffswütig genug - lasst sie uns durch den Missbrauch der glorreichen Namen Gerechtigkeit und Gottesfurcht weiter entfachen und entflammen! Einen ärgeren Zustand als den, in dem die Niedertracht rechtmäßig wird und sich mit Billigung der Obrigkeit den Mantel der Tugend umhängen darf, kann man sich nicht vorstellen. Kein Gesicht ist lügnerischer als das einer verderbten Religion, die den Willen Gottes zum Vorwand für Verbrechen nimmt" (S. 526). M. sieht fanatisch übersteigerte Frömmigkeit und sadistisches Handeln sogar in einem korrelativen (und Freudianer könnten sagen: psychodynamisch ableitbaren) Zusammenhang: "Bei unsereinem (bei den Menschen - mit Ausnahme der Heiligen!) aber habe ich stets zwei Dinge in besonders engem Zusammenspiel gesehen: überhimmlisches Denken und unterweltliches Tun" (S. 565).

Besonders entrüstet ihn der systematische Einsatz sadistischer Foltermethoden im Rahmen juristischer "Beweissicherung" und Strafverfolgung speziell bei Hexenprozessen, und er traut sich auch, das ganz deutlich auszusprechen: "Was mich betrifft, scheint mir selbst in der Rechtsprechung alles, was über die einfache Tötung hinausgeht, schiere Grausamkeit" (S. 214). Aber das war zu seiner Zeit übliche Praxis, nämlich in einem hochnotpeinlichen "Verhör" mit Hilfe der Folter zur Beweissicherung (!) ein Geständnis des Beschuldigten zu erwirken. M. klagt die Folterer und ihre kirchlich-staatlichen Auftraggeber an: "Seid ihr nicht ungerecht, wenn ihr ihm, um ihn nicht ohne Schuldnachweis zu töten, Schlimmeres antut als den Tod? Seht doch, wie oft ein Angeklagter lieber unschuldig stirbt, als ein solches Verhör durchzumachen, das qualvoller ist denn die Hinrichtung, die es mit seiner Grausamkeit nicht selten vorwegnimmt und vollstreckt: ... Hinrichtung zur Beweissicherung!" (S. 183). "Was würde man nicht alles sagen, ... um derart höllischen Qualen zu entrinnen! So kommt es denn dazu, dass der Richter jenen, den er den Folterknechten überantwortet, um keinen Unschuldigen hinrichten zu lassen, als Unschuldigen und Gefolterten hinrichten lässt. Tausende und aber Tausende hat so ihr falsches Geständnis schon den Kopf gekostet ... Ich für mein Teil finde es (das Foltern) zutiefst unmenschlich ..." (S. 183). Welch ein Mut des M., sich so offen für die Gequälten einzusetzen, die immerhin Angeklagte waren! In einem der letzten Kapitel der Essais, unter dem ganz unverfänglichen und betont verharmlosenden Titel "Die Hinkenden" (in Wirklichkeit geht es um Hexenverfolgung!) greift M. dieses Thema noch einmal auf, wohl wissend, dass er sich damit selbst in extreme Gefahr begibt. Er wendet vorsichtig ein, es werde gesagt, man "dürfe sich nicht immer an das Selbstgeständnis der Hexen und Hexer halten, denn man habe sie sich zuweilen (H. S.: unter der Folter!) der Tötung von Menschen bezichtigen sehen, die man hernach gesund und munter fand" (S. 519). Daraus ergibt sich für ihn: "Ehe man Menschen tötet, muss die Beweislage klar sein wie der hellichte Tag. Unser Leben ist ein zu wirkliches und wesentliches Gut, als dass man es zum Blutzeugen für solch übernatürliche und imaginäre Vorkommnisse (H.S.: wie Hexerei und Zauberei) machen dürfte" (S. 519). Und was die Art der Hinrichtung betrifft, wird M. so deutlich, wie er es gerade noch glaubt riskieren zu können: "Jene Leute schätzen den Wert ihrer religiösen Spekulationen(!) doch wohl allzu hoch ein, wenn sie um derentwillen einen Menschen bei lebendigem Leibe verbrennen lassen!" (S. 520). H. Friedrich meint dazu, dass sich M. in diesem Essai "mutig ... gegen einen Irrwahn der Menge und klerikalen Fanatismus (stellt). Hier ist er ... in der Tat ... ein Vorbote der Aufklärung" (S. 130).

Ohne direkten Bezug auf die jüdische Tradition (z.B. die Bereitschaft Abrahams, aus Gehorsam gegenüber Jahwe diesem seinen eigenen Sohn zu opfern) oder auf das zentrale christliche "Heilsereignis" (die Bereitschaft des Christengottes, den Kreuzestod seines Sohnes Jesus als Opfer anzunehmen zur Tilgung der menschlichen Schuld) verweist M. an anderer Stelle auf "jene sehr alte und von allen (!) Religionen geteilte Auffassung ..., dass wir den Himmel ... durch Mord und Totschlag besänftigen könnten" (S. 109). An einer späteren Stelle ruft er aus: "Welch unbegreifliche Verblendung, das Wohlwollen der Götter mit unserem Leid einkaufen zu wollen - ... Welch aberwitzige Anwandlung, ... durch die Bestrafung Unschuldiger die Schuldigen vor der ihnen gebührenden Strafe bewahren zu wollen!" (S. 261).

Wir haben gesehen, wie empört M. darüber war, dass vor allem die katholische Kirche andersgläubige oder bloß durch irgendwelche Besonderheiten auffällige Menschen unterdrückte und verfolgte. In ähnlicher Weise verfemte und vernichtete die Inquisition und Gegenreformation auch missliebige Bücher. M. ortet die Anfänge solcher Praxis schon in das vorchristliche Rom der Kaiserzeit und berichtet von einem Labianus, der in seinen Schriften und Büchern kein Hehl machte aus seiner Ablehnung der Tyrannei (S. 198): "Seine Widersacher brachen daher vor dem römischen Magistrat einen Prozess gegen ihn vom Zaun und erreichten es, dass mehrere seiner Werke, ... zum Scheiterhaufen verurteilt wurden. So begann mit ihm diese neue und später in Rom gegen viele andere angewandte Ahndungsart, sogar über jederlei Schriften die Todesstrafe zu verhängen" (S. 199), und wie mit einem tiefen Seufzer der Verzweiflung ruft M. aus: "Wenn man so die Körperstrafe nicht selbst auf die Wissenschaften und die Werke der Musen übertrüge!" (S. 199). Schon in den alten Zeiten der christlichen Religion ließ "der Glaubenseifer vieler ihrer Anhänger gegen jede Art von heidnischen Büchern wüten ..., deren Verlust die Gelehrten heute noch zutiefst bedauern. Meiner Meinung nach haben diese Ausschreitungen der Literatur und Wissenschaft mehr Schaden zugefügt als alle Brandschatzungen der Barbaren" (S. 333). M. bedauert besonders, dass kein einziges vollständiges Exemplar der Werke des Cornelius Tacitus "den eifrigen Nachstellungen entgangen (ist), die wegen fünf, sechs nebensächlichen Sätzen gegen unsere Religion ihre Zerstörung betrieben" (S. 334). Wer denkt dabei nicht an Salman Rushdie und seine "Satanischen Verse"! Und ich male mir aus, wie eine Vernichtung der Essais von Montaigne zu einem unersetzlichen Verlust für unsere geistige Welt geführt hätte. Den Göttern sei Dank, dass uns eine solche schmerzliche Erfahrung erspart geblieben ist. Wir werden noch sehen, wie M. selber dazu beigetragen hat, sein Werk vor der Verurteilung und Vernichtung zu bewahren.

Neben den Grausamkeiten gegenüber Anderen und der Vernichtung von Büchern thematisiert M. besonders auch das religiös motivierte Selbstopfer, das er in einen Zusammenhang bringt mit den leibfeindlichen Tendenzen des christlichen Glaubens. Zunächst erklärt er ganz neutral, dass jede Überzeugung so stark sein könne, dass Menschen bereit seien, ihr Leben dafür zu opfern. Dergleichen Beispiele könne jede Religion erbringen (S. 30). Immer noch verallgemeinernd stellt er fest: "Sich (selber) abzulehnen und zu hassen stellt eine absonderliche Krankheit dar, die sich bei keinem anderen Geschöpf findet" (S. 176). Wie wahr! Ohne die Selbstkasteiung, die Geisslergruppen und die leibfeindlichen Gelübde der Mönche innerhalb des Christentums zu erwähnen, nimmt M. ähnliche Tendenzen aus dem Bereich des Islam aufs Korn: "Im Reich des Großtürken gibt es eine beträchtliche Zahl von Männern, die ... essen nur einmal in der Woche. Auch schlitzen sie sich Gesicht und Gliedmaßen auf und zerfetzen sie, und mit keinem sprechen sie je ein Wort (H. S.: vgl. das Schweigegebot der Trappisten!): Fanatiker samt und sonders, die ihre Natur durch Denaturierung zu ehren glauben, die sich der eigenen Geringschätzung wegen wertschätzen und sich durch ihre Verschandelung zu vervollkommnen wähnen" (S. 444). Insbesondere in der (christlichen) Sexualfeindlichkeit kann M. keinen positiven Sinn sehen: "Von unseren Gliedmaßen aber scheinen jene die angenehmsten und notwendigsten, die unserer Fortpflanzung dienen. Dennoch fassten nicht wenige Leute einen tödlichen Hass auf sie, allein weil sie ihnen allzu liebenswert vorkamen ..." (S. 35). M. hält dagegen: "Männer und Frauen sind zu tausend schädlicheren und schändlicheren Verfehlungen imstande als dem Ausleben der Sinnenlust. ... Die Schwere unserer Moralgebote macht die Hingabe der Frauen an dieses Laster schwerer und lasterhafter, als es seiner Beschaffenheit nach ist, und beschwört für sie deshalb Folgen herauf, die schlimmer sind als ihre Ursache" (S. 430), und später: "Ihre (der Lüste) Nichtigkeit groß herauszustellen können wir uns ersparen, wir bekommen sie ohnehin deutlich genug zu spüren - wofür wir uns bei unserm krankhaften Geist zu bedanken haben, diesem Spielverderber, der uns alle Freude an den Lüsten wie an ihm selbst verekelt", und M. bekennt ganz persönlich: "Mir, der ich stets der Erde verhaftet bleibe, ist jene menschenfeindliche Weisheit zuwider, die uns die Körperkultur verächtlich und verhasst machen will. Ich finde es ... abwegig, die natürlichen Lüste dem Herzen zu verleiden ... lächerlich macht sich, wer sich selbst jene (Genüsse) verkneift, welche die Natur ihm eigens bereitstellt" (S. 559). Mit solch freimütigen Äußerungen distanziert sich M. eindeutig von der paulinischen und weiterhin im Christentum verbreiteten Leibverachtung und Leibfeindschaft. Für sie hatte er schon deshalb kein Verständnis, weil die auch "leiblichen" Laster der Geistlichen sich kaum von denen weltlicher Potentaten, und ebenso nicht von der alltäglichen Sinnlichkeit der einfachen Menschen unterschieden, nur dass die Letztgenannten nicht so verlogen waren wie die Erstgenannten: "Ehrgeiz, Habsucht und Wankelmut, Furcht und des Fleisches Begierden fallen nicht von uns ab, nur weil wir die Gegend wechseln: ... Oft folgen sie uns sogar bis in die Klöster und die Schulen der Philosophie" (S. 125). Dort allerdings werden die menschliche Natur und die ihr in gutem Sinne zugehörige Sinnlichkeit durch äußerliche Frömmelei, Verlogenheit und Falschheit überdeckt.

M. kritisiert nicht nur die Vollstrecker und Ausnutzer kirchlichen Machtanspruchs und diejenigen, die im besten Glauben derartige Repressionen gegen sich selber richten. Er weiß vielmehr auch die Schreibtischtäter ins Visier zu nehmen, die für solch schädliches Tun die Rechtfertigungen liefern, insbesondere die scholastischen "Philosophen". Seine Kritik knüpft an die alte Tradition des pyrrhonischen Zweifels an, und so spricht er im Sinne des Pyrrhon von dem "eingebildeten und wahnhaften, vom Menschen zu Unrecht in Anspruch genommenen Recht ..., die Wahrheit festzulegen, zu reglementieren und zu schulmeistern" (S. 251). Sicher denkt er beim Wort "schulmeistern" an die Scholastik, was ursprünglich so etwas wie "Schullehre" bedeutete, bis es zur Bezeichnung der mittelalterlichen katholischen Theologie und Philosophie wurde. Deren Dispute sieht er keineswegs als belanglos an, denn er weiß, wie viele Zwistigkeiten und wie folgenschwere im Glaubenskampf allein die umstrittene Bedeutung der Silbe "hoc" über die Welt gebracht hat (S. 263). Er bezieht sich dabei auf die dem Jesus zugeschriebenen Worte: "Hoc est corpus meum" (= Dies ist mein Leib), die als Einsetzung des christlichen Abendmahls gedeutet wurden, wobei die Frage aufkam, ob "dies" (diese Oblate und dieser Wein) realiter der Leib Christi ist, bzw. in ihn verwandelt wird, oder ob "dies" ihn nur symbolisch bedeutet. M. kann solche kniffligen Unterscheidungen wie in der Transsubstantiationslehre nicht so ganz ernst nehmen: "Dass in einem reinen Wortstreit um das rechte Dogma jene Leute genau so viel Plausibles vorbringen mögen wie ihre Widersacher - sei´s drum!" (S. 519), und er bedauert, dass sich unter dem religiösen Glaubens- und Meinungszwang auch die Gebildeten allzu willfährig verhalten: "Heute jedoch, wo alle Menschen im Gleichschritt marschieren ... - und wo wir die Wissenschaften und Künste von der Obrigkeit verordnet bekommen, ... alles nimmt man widerspruchslos hin" (S. 279). Könnte man diese Formulierungen nicht, ohne jede Abänderung, auch zur Charakterisierung der totalitären Systeme (Stalinismus, Nazi-Regime) unserer Zeit verwenden?

Auch die Heranziehung des Aristoteles zu einer philosophischen Fundierung des christlichen Glaubens überzeugt ihn nicht: "Die Gebote des Aristoteles, des Gottes der scholastischen Wissenschaft, zur Diskussion zu stellen gilt als Frevel ... Seine Doktrin dient uns als oberstes Gesetz, und doch ist sie vielleicht genau so falsch wie irgendeine andere" (S. 269). Den grundlegenden Fehler sieht er im Glauben an die Schlüssigkeit logischer Ableitungen bei fragwürdigen Prämissen: "Es ist sehr leicht, auf Postulaten Gedankengebäude jedweder Art zu errichten, denn kraft einer solchen die Regeln festlegenden Vorgabe lassen sich die übrigen Teile widerspruchslos zusammenfügen" (S. 269). So belächelt er das scholastische Argumentieren und dessen scheinlogische Beweisführung ("... ergo: ... "!), aber er lässt es nicht mit solcher formalen Kritik bewenden, sondern sucht den Disput um die bislang unhinterfragbaren Voraussetzungen: "Jenen, die mit Postulaten in den Kampf ziehen, muss man deren jeweilige Umkehrung ins Gesicht postulieren - ... Deshalb muss man sie (die Postulate) samt und sonders auf die Waage legen, vornehmlich die allgemeinen (Prinzipien) und solche, die uns tyrannisieren "(S. 270). Das meine ich auch!

Was ich bis zu diesem Punkt an kritischen Äußerungen von M. über den christlichen Glauben und die christlichen Kirchen referiert habe, lässt die Frage nach einer Gesamtwürdigung seiner religiösen Einstellungen aufkommen. Wenn man die verschiedenen Aspekte bedenkt und berücksichtigt, was kann dann als Gesamtergebnis gelten? Es ist inzwischen wohl deutlich genug geworden, dass M. kein gläubiger Christ war, aber nicht aus Unkenntnis, sondern in freier Entscheidung zum Verzicht auf diesen Gauben, zur Abwehr von unzumutbaren Glaubensforderungen. Aber lassen wir ihn noch einmal selbst zu Wort kommen! Nach seiner Erinnerung hat seine Skepsis frühe Wurzeln in seiner Lebensgeschichte. Schon im Internat entwickelte er "eigene feste Vorstellungen und so offne wie sichere Urteile hinsichtlich der ihm bekannten Dinge", und er war schon damals "völlig unfähig ..., sich dem Joch von Zwang und Gewalt zu beugen" (S. 96). Er steht zu seiner "Fähigkeit, die Wahrheit herauszusieben", und bekennt "diese freie Sinnesart, meinen Glauben nicht leicht unterjochen zu lassen" (S. 327). Jedem autoritären Zwang setzt er seinen entschiedenen Widerstand entgegen: "Bitten gewinnt mich, Drohen stößt mich ab. Freundlichkeit macht mich geneigt, Einschüchtern unbeugsam" (S. 476). Gilt das vielleicht auch für die Drohungen und Einschüchterungen der Inquisition? Er wehrt sich gegen "Eintrichterungsversuche": "gebunden und festgelegt sein bringt mich ohnehin aus der Fassung" (S. 483). Er betont, dass er kaum der Mann sei, "der sich sein Urteil durch Vorurteile knebeln lässt". Diese Einstellung ist vielleicht in seinem starken Freiheitsbedürfnis begründet: "Mir ist jede Herrschaft zuwider, ob ausgeübt oder erlitten" (S. 460). In dieser bemerkenswerten Aussage verbindet sich das Nichtautoritäre von oben mit dem Antiautoritären von unten, das Gewähren von Freiheit für Andere mit dem Anspruch auf eigene Freiheit. Eigentlich auf drei Ärzte bezogen, aber auch auf drei Propheten wie Moses, Jesus und Mohammed anwendbar, stellt M. fest: "Doch dass drei Zeugen ... das Menschengeschlecht bevormunden, ist nicht recht: Dafür müssten sie schon von der menschlichen Natur selber gewählt, beauftragt, und durch ausdrückliche Vollmacht zu unsern Anwälten ernannt worden sein" (S. 389). Voilà, un démocrate!

Dieses Freiheitsbedürfnis und die grundsätzliche Skepsis richtet sich ganz klar auch gegen die Glaubenszwänge seiner christlichen Umwelt, allerdings mit der gebotenen Vorsicht, in durchsichtige Ironie umgesetzt: "an Wunder glaube ich nur in Glaubensdingen" (S. 427). Sonst nämlich überhaupt nicht! Denn "vor mir verstecken sich bis zur Stunde alle diese Wunder und wundersamen Geschehnisse" (S. 518), und an anderer Stelle: "was mich betrifft, würde ich, was ich einem nicht glaube, auch hundert und einem nicht glauben; und nie beurteile ich Meinungen danach, seit wie viel Jahren sie bestehen" (S. 515). Auf eine bestimmte Wundergeschichte bezogen bemerkt er sarkastisch: "Ich würde dergleichen mir selbst nicht glauben", und er setzt etwas sachlicher fort: "Mir scheint es entschuldbar, wenn man einem Wunder gegenüber zumindest solange ungläubig bleibt, wie man es auch mit nicht wunderbaren Ursachen erklären kann ...Ich bin schwer von etwas Unwahrscheinlichem zu überzeugen und halte mich daher möglichst an das Handgreifliche und Wahrscheinliche" (S. 519). Schließlich bemüht er Plutarch, der einer Aussage die Worte "wie man es sagt" angefügt hatte, "um unsere Glaubensbereitschaft zu zügeln, denn er (hätte) etwas an sich Unglaubwürdiges ohnehin weder selbst glauben noch uns als glaubwürdig ausgeben wollen" (S. 357). Auch M. forderte von anderen Menschen keinen Glauben, sondern er ermunterte sie zum Selberhinsehen und Selberdenken. Ich denke, dass diese Zitate ausreichen, um M. als einen "ungläubigen Michel" zu bezeichnen, worüber er sich zumindest insgeheim wohl gefreut hätte!

Erlauben Sie mir bitte nach diesen vielen wörtlichen Zitaten aus den Essais des Montaigne noch eine Zwischenbemerkung: auf wie viel ähnlich gute Formulierungen und inhaltsreiche Überlegungen des Autors musste ich verzichten, als ich mich auf die bislang vorgelegte Auswahl beschränkte! Lesen Sie deshalb bitte selber in den Essais, und entdecken Sie weitere "Rosinen" zu den Themen, an denen Sie selber interessiert sind!