Ich muss an dieser Stelle einräumen, dass ich an verschiedenen Stellen seiner Essais Passagen zu lesen bekam, wo ich meinen Augen nicht trauen mochte, und wo sich meine Feder sträubte, sie als Zitate abzuschreiben und hier wiederzugeben. M. konnte also auch anders - oder musste er etwa auch anderes zu Papier bringen? Um am Leben zu bleiben? Dem bisher vermittelten Bild des Autors entgegen kann man im 12. Kapitel des 2. Buches, in der "Apologie für Raymond Sebond", einen ganz anderen Montaigne kennen lernen. Vielleicht am krassesten ist M.s Verbeugung vor der Inquisition an der Stelle (S. 222), wo er sich mit der Kritik der Atheisten an Raymond Sebonds (apologetischen) Argumenten befasst. Angesichts der "uneingeschränkten Macht und Majestät der Religion" sagt M., und zwar überraschenderweise anfangs in Ich-Form, müsse der Wahnwitz der Atheisten "niedergezwungen", ihr Hochmut "zuschanden gemacht" und "zertreten" werden; man müsse ihnen die armseligen Waffen ihres Verstandes "aus den Händen schlagen", müsse sie in Ehrerbietung vor der Macht und Majestät Gottes "den Kopf zur Erde beugen lassen, bis sie den Staub lecken". Solche Formulierungen sind so meilenweit entfernt von M.s sonstiger Diktion und Denkweise, dass man zunächst zweifeln möchte, ob er sie selbst verfasst haben könnte. Schließlich ruft er sogar aus (oder erinnert er sich nur an einen dermaßen denkfeindlichen Ausruf eines Anderen?): "Also nieder mit dem Hochmut, diesem Hauptpfeiler der Tyrannei des bösen Geistes!" (S. 222). Ist denn M. beim Schreiben dieser Zeilen von allen guten Geistern verlassen? Aber es ist kein Ausrutscher. Nach 20 Seiten Text, in dem er u.a. in einer sehr modernen Tierpsychologie den Menschen neben dem Tier sieht und ihn keinesfalls - jüdisch-christlich - über das Tier stellt, greift er die obigen Bemerkungen wieder auf (S. 242): "Nur dies möchte ich noch sagen: Allein Demut und Unterordnung machen einen rechtschaffenen Mann ... man muss ihm (seine Pflicht) auferlegen ... Das erste Gesetz, das Gott dem Menschen gab, war das des unbedingten Gehorsams: ein einfacher und klarer Befehl, an dem der Empfänger nichts zu kritteln und zu deuteln hatte; denn das Gehorchen ist die wichtigste Aufgabe einer vernunftgelenkten Seele, die einen himmlischen Herrn und Wohltäter über sich anerkennt. Aus dem Gehorchen und Sichfügen erwächst jede andere Tugend ... Die Pest des Menschen ist, dass er zu wissen wähnt. Daher wird uns von unserer Religion die Unwissenheit als dem Glauben und Gehorchen förderlich so dringend ans Herz gelegt". Und das schreibt ein M., dem es so sehr um die Wahrheit ging und der in den Essais so viel unchristliches Wissen ausgebreitet hatte! Aber M. kann es (in diesem Kapitel vor allem!) gar nicht genug betonen (S. 242): "Dank unseres Nichtwissens mehr als unseres Wissens sind wir Wissende der göttlichen Weisheit ... Bringen wir also an Eigenem allein unseren Gehorsam und unsere Unterwerfung dar ...", und ein paar Seiten weiter (S.251): Der Mensch ist "als allen Menschenwissens entblößt ... zur Aufnahme des göttlichen Wissens um so tauglicher, indem er sein eigenes Denken zunichte macht, damit der Glaube mehr Platz in ihm finde; ... als demütig und gehorsam; ...als geschworener Feind der Ketzerei ... Je mehr wir uns Gott vertrauensvoll ausliefern, je mehr wir uns selber verleugnen, desto besser steht es mit uns". In diesen Zeilen treibt M. seine Selbstverleugnung fürwahr auf die Spitze! Und weiter auf S. 276: "Es war zur Züchtigung unseres Stolzes und zur Belehrung über unsere Unzulänglichkeit und Erbärmlichkeit, dass Gott ehedem die haltlose Verwirrung beim Turmbau zu Babel entstehen ließ ... Und zu unserem Nutz und Frommen verwirren! Denn wer könnte uns im Zaume halten, wenn wir auch nur ein Körnchen Erkenntnis besäßen?" Das schreibt ein M., der an Erkenntnis den Menschen seiner Zeit so weit voraus war! Und um den Kontrast weiter zu erhöhen, noch ein letztes Zitat (S.279): "Man tut recht daran, dem menschlichen Geist so enge Schranken wie nur möglich zu setzen. Im Studium und in allem übrigen muss man ihm seine Schritte vorzählen und lenken ... Man sollte den Geist daher besser unter Vormundschaft stellen: Er ist wahrhaftig ein gefährliches Schwert - selbst für seinen Besitzer, wenn er nicht besonnen hiermit umzugehen weiß". Mit dieser Bemerkung lässt M. - vielleicht ungewollt - die Katze aus dem Sack: Seine geistfeindlichen Sprüche, von wem auch immer abgeschrieben oder sogar noch von ihm selber karikierend übertrieben, sollen ihn offenbar davor schützen, wegen seiner freigeistigen Wahrheitsliebe (und Kritik am christlichen Glauben) in Gefahr für Leib und Leben zu geraten. An anderer Stelle sagt er es ganz offen: "Ich will der gerechten Sache bis an den Scheiterhaufen folgen, aber, wenn es sich vermeiden lässt, nicht hinein" (S. 392).
Den zitierten Hasstiraden gegen die Atheisten und der Kriecherei vor der Weisheit Gottes und der Kirche, mit denen M. ein gesetzestreues Wohlverhalten im Respekt vor der Macht der Inquisition demonstrierte, entsprechen einige weitere Passagen, die in ihrer Beweihräucherung des Christengottes schon wirklich peinlich frömmlerisch sind. Ich will daraus nur wenige Sätze wiedergeben und dazu bemerken, dass M. sie wirklich so zu Papier gebracht hat und auch bei mehrfachen Korrekturen des Gesamttextes sie mit Bedacht hat unverändert stehen lassen. Ich empfehle, die folgenden Zitate laut zu lesen, am besten mit der volltönend-melodischen Intonation eines jesuitisch ausgebildeten Predigers. Fangen Sie an: "Bei einer so erhabenen, so göttlichen und allen menschlichen Verstand so weit übersteigenden Wahrheit wie jener, mit der uns zu erleuchten der Güte des Herrn gefallen hat, ist es in der Tat erforderlich, dass er uns mit seiner außerordentlichen Gnade weiter zu Seite stehe, damit wir diese Wahrheit völlig zu erfassen und uns anzueignen vermöchten ..." (S.218) und im gleichen Ton vielleicht auch das folgende Zitat: "Gibt es etwas Eitleres, als ... uns dem Höchsten gegenüber jenes winzigen Schnipsels Verstand zu bedienen, das unserer natürlichen Beschaffenheit zuzugestehen er geruht hat? Etwas Eitleres, als ihn, da wir unsern Blick nicht bis zum Thron seiner Herrlichkeit erheben können, in unsere Verderbtheit und Misere herbeizuziehen?" (S. 256) und im gleichen Ton weiter: "Allein die Dinge, die uns vom Himmel kommen, haben Recht und Vollmacht, uns zu überzeugen, sie allein tragen das Zeichen der Wahrheit; und selbst das erkennen wir nicht mit unseren Augen und fassen wir nicht mit unsrer Fassungskraft ..." (S. 281). Nachdem M. zwischenzeitlich eine dem Apoll zugeschriebene, ziemlich religionskritische und realistische Bemerkung zitiert hat, schiebt er schnell, quasi als Gegenmittel, in Klammern gesetzt den folgenden Schwulst ein: "(Welchen Dank sind wir doch Deiner Güte, o Gott, unser Herr und Schöpfer, dafür schuldig, dass sie unseren Glauben von der Torheit solch wechselhafter und willkürlicher Anbetungsformen befreit und ihn fest im ewigen Fels Deines heiligen Wortes verankert hast!) (S.289).
M. greift solche Inhalte in der gleichen Diktion noch einmal außerhalb der Apologie auf der vorletzten Seite seiner Essais auf, wie um anzudeuten, dass er gewillt ist, dieses "Gegenmittel" für das ganze Buch wirksam werden zu lassen, nämlich um es gegen inquisitorische Fragen und Verfolgungen zu schützen und quasi zu versiegeln. Er schreibt hier (S. 565) über "jene verehrungswürdigen Seelen ..., welche die Inbrunst von Glauben und Versenkung zur unentwegten und gewissensernsten Anschauung der göttlichen Dinge erhebt: Seelen, die kraft einer lebendigen und leidenschaftlichen Hoffnung schon im Diesseits der ewigen Himmelsspeise teilhaftig werden, nach der alle christliche Sehnsucht als dem höchsten und endgültigen Ziele lechzt, der einzigen immerwährenden und unverweslichen Freude - ...Solch hehres (!) Streben ist Sache auserwählter Seelen". Soweit eine Auswahl der krassesten Beispiele für "christliche" Lobhudelei aus der Feder von M. Ab hier, liebe Leserin und lieber Leser, können Sie den pastoralen Ton abstellen und wieder zur normalen Sprechweise übergehen.
Achten wir im Folgenden einmal darauf, mit welchen Bemerkungen M. solche frommen Sprüche jeweils abschließt. Da bezweifelt er etwa (S. 218), dass die rein menschlichen Mittel für das Erfassen und die Aneignung der göttlichen Wahrheit auch nur im geringsten tauglich seien - "denn wäre das der Fall, hätten all die vielen ungewöhnlichen, hervorragenden und überreich mit natürlichen Kräften ausgestatteten Geister der Antike [H.S.: die M. so gerne und ausgiebig zitiert!] nicht verfehlt, dank ihrer vernunftgemäßen Überlegungen zu solcher Erkenntnis zu gelangen". Das könnte auch heißen: dieser Glaube ist so abseitig, dass keiner der klugen Denker des Altertums je auf solche Ideen gekommen wäre! Und M. setzt fort: "Allein der Glaube ist es, der die hehren [!] Geheimnisse [!] unserer Religion lebendig und sicher in sich aufzunehmen vermag". Das könnte in einer Umdeutung des lutherischen "sola fide" auch heißen: man muss schon sehr glaubensbereit sein, um so etwas glauben zu können! Und auf der gleichen Seite argumentiert M.: "Dränge dieser Strahl der Gottheit auch nur ein wenig in uns ein, würde er rundum wieder hervorscheinen. Nicht allein auf unseren Worten, sondern auch auf unserem Tun läge sein Licht und Leuchten. Was immer von uns ausginge, sähe man von dieser hehren [!] Klarheit erhellt". Aber dem ist offenbar nicht so, denn "... wir sollten uns schämen, wie sich bei den Christen eine so himmlische, so göttliche Offenbarung bloß in Worten niederschlägt". Und M. versäumt nicht, hier auf die Tatsache hinzuweisen, dass es dagegen in den weltlichen Philosophenschulen noch nie einen Anhänger gegeben habe, der nicht einigermaßen nach deren Lehren gelebt und gehandelt hätte. Und schließlich, nach der schon zitierten Hasstirade gegen die Atheisten (S. 222) und dem frommen Bibelspruch "Gott widersteht den Hoffärtigen, doch den Demütigen gewährt er seine Gnade", rutscht ihm die so riskante unchristliche Bemerkung heraus: "Vernunft, sagt Platon, ist in allen Göttern, aber nur in ganz wenigen Menschen". Wohlgemerkt: Götter im Plural! Und immerhin ein paar Menschen, in denen Vernunft ist. Montaigne gehört zu ihnen! Oh dieser Michel, so könnte man ausrufen, ihm kommt die Skepsis sogar nach dem frömmlerischsten Sermon wieder in den Sinn und über die Lippen, er kann es einfach nicht lassen! So findet man, allerdings nur bei einem aufmerksamen Lesen oder besser Wiederlesen, selbst nach den unerträglichsten, aber zugleich schon karikierenden Passagen der Beweihräucherung des christlichen Gottes und des christlichen Glaubens, anschließend eine feine, versteckte Ironie und somit ein Ad-absurdum-Führen dieses Glaubens. Wenn M. an mehreren solchen Stellen betont, nur durch unseren christlichen Glauben könne der Mensch die göttliche Wahrheit erfahren und das Wunder seiner eigenen Wandlung erhoffen (z.B. S. 300), dann heißt das auch, dass beides ohne diesen Glauben nicht geschieht und dass dies vielleicht gar nicht zu bedauern ist!
Die Unterschiede zwischen den unchristlichen und den "christlichen" Sprechweisen von M. sind schon krass. Es kann in ihnen nicht beides, die Behauptung und ihre Negation, gleichermaßen wahr oder gleichermaßen ehrlich sein. Es ist somit klar, dass M. in einer der beiden (oder mehreren!) Varianten gelogen haben muss. Er sagt ja selber, dass er in der Not auch mal lügt. So ehrlich ist er wiederum! Aber was meint er wirklich? Sein Buch ist in der Tat tief widersprüchlich, und gleichzeitig sehr unterschiedlich auch im Stil: meistens sachlich oder mit einem freundlichen Augenzwinkern referierend, manchmal frivol, oft scharf argumentierend, auch "zersetzend" atheistisch, und dann wieder, eben in der "Apologie für Raymond Sebond", peinlich frömmlerisch, aber vielleicht das letztere nur, um (offensichtlich) sich selbst vor der Inquisition zu bewahren und, heimlich, um diesen Glauben ad absurdum zu führen. Auf zumindest ironische, manchmal aber auch karikierend übertriebene Verbeugungen vor der Kirche folgen dann bissig-hämische Bemerkungen gegen diese Kirche. Aber M. lässt sich nicht inquisitorisch beim Wort nehmen, er beteuert wiederholt, dass er theologisch völlig inkompetent sei, nur unmaßgebliche Meinungen äußere, und keineswegs Glaubenswahrheiten vertrete. In solchen Dingen, so betont er, müsse man sich an die Geistlichen halten, an die verehrungswürdigen Theologen der Hochschulen.