M. schätzt und achtet die Verschiedenheit der Menschen: " ... und abweichend von der großen Mehrheit komme ich leichter mit den Unterschieden als mit den Ähnlichkeiten zwischen uns zurecht" (S. 121), oder an anderer Stelle (S. 462): " ... Kein Glaube verletzt mich, so sehr er auch dem meinen zuwiderlaufen mag", und er setzt noch eins drauf (S. 467): " ... es zeugt immer von tyrannischem Starrsinn, (irgendwelche) Einstellungen und Verhaltensweisen, die von der eigenen abweichen, nicht ertragen zu können". M. kann Menschen verschiedenster Art und verschiedensten Glaubens voller Achtung und mit liebevoller Zuwendung einfühlend charakterisieren. Man kann ihm einen wissenschaftlich-neugierigen und zugleich menschenfreundlichen "ethnologischen Blick" zusprechen. Er ist bereit, auch von den "wilden" Indios etwas zu lernen (1.Buch, Kap. 31 "Über die Menschenfresser", S. 109 ff.), und er kommt gleichermaßen gut auch mit den Christen, den katholischen und den protestantischen, seines Heimatlandes zurecht, und nicht weniger gut auch mit "Heiden". Er hat jedenfalls viel Verständnis für die religiös-kulturellen Besonderheiten von Menschen aus aller Welt, obwohl sie ihm manchmal auch ein leises Kopfschütteln oder ein freundlich-ironisches Lächeln abnötigen. Ohnehin vermag M. die Religion "überhaupt nur in Verbindung mit dem Menschlichen zu betrachten: Gewohnheit und Milieu bestimmen unser religiöses Verhalten" (H. Friedrich, S. 99). Seine Verschiedenheitstoleranz ist aber nicht mit Indifferenz gleichzusetzen; er findet keineswegs unterschiedslos alles gleichermaßen akzeptabel. So kann er sich über manches ("Hexen"verbrennung, Folter etc.) sehr kritisch äußern, auch über die Verführbarkeit der Massen, noch mehr über die Verführungstricks der Mächtigen, vor allem wenn sie den Anspruch haben, über den Glauben Anderer zu verfügen. M.s Toleranz findet also ihre Grenze an der Intoleranz und dem Fanatismus derjenigen, die zwar Duldung, Schutz und Freiraum für sich selber und ihresgleichen fordern, aber nicht bereit sind, dasselbe anderen zu gewähren.
Ist M. nach all dem als ein "Multikulti" einzuschätzen? Im weltweiten Maßstab sehr wohl, und er hatte einiges getan, um diese Einstellung praktisch zu realisieren: er war ein polyglotter Internationaler des Geistes, beherrschte mehrere Sprachen auch beim Verfassen anspruchsvoller Texte, er war viel auf Reisen auch im fremdsprachigen Ausland, und man findet in seinen Essais kaum etwas, wo er die Franzosen als etwas Besonderes herausstreicht oder die Ausländer generalisierend schlecht macht. Aber für die weniger gebildete Masse sieht er offenbar eine gewisse Eindeutigkeit der Lebensformen als besser orientierend an; zu große Differenzen könnten ihre Verarbeitungskapazität überfordern. So betont er nach außen hin: "Ich stehe fest zur gesetzestreueren (!) Partei, aber mir liegt nichts daran, mich wider alle Vernunft durch besondere Feindseligkeit gegen die andern hervorzutun" (S. 510). In jedem Falle möchte er die Oberhirten der christlichen Kirchen mit den Worten des Kaisers Julian Apostata in die Pflicht nehmen, "die inneren Zwistigkeiten zu dämpfen und jeden ohne Fessel und Furcht seine eigene Religion ausüben zu lassen" (S. 335). Das könnte Friedrich der Große von ihm übernommen haben mit seiner Notiz: „Die Religionen Müssen alle Tollerieret werden ..., denn hier muß ein jeder nach seiner Fasson Selich werden“ (zitiert nach Georg Büchmann: Geflügelte Worte, S. 297. Deutsche Buchgemeinschaft, Berlin, 1952).
Das Miteinander von Toleranzanspruch für sich selbst und Toleranzgewährung für andere verwirklicht M. auch im Innenverhältnis zu sich selbst: er hält sich dazu an, auch sich selbst gegenüber tolerant zu sein und er nimmt solche Toleranz für jede Seite seiner Persönlichkeit in Anspruch. M. hat das in einem bildkräftigen Satz prägnant ausgedrückt: "Ich könnte im Notfall wahrhaftig - und ich scheue mich nicht, es zu gestehen - wie jenes alte Weiblein in der Sage ohne Bedenken dem heiligen Michael eine Kerze darbringen und eine zweite seinem Drachen" (S. 392). Aber dazu muss einer mit dem Drachen in sich selber ins Reine gekommen sein, was M. offenbar gelungen ist. Er hat Sinn für das Bekämpfte, Verpönte, Unterdrückte nicht nur im sozialen Umfeld, sondern auch in sich selbst; er kann interne Spannungen und Konflikte aushalten und vor einseitigen oder vorschnellen Erledigungen bewahren. In Außen- und im Innenverhältnis ist M. somit ein Liberaler im alten Sinne des Wortes: einer, der Freiheiten verteidigt, kein bloßer Schlossherr oder Besserverdienender!
Konnte M. mit den in den letzten Abschnitten skizzierten Einstellungen noch ein Monotheist sein - ganz abgesehen davon, dass er offensichtlich kein Christ war? Er war wohl aus guten Gründen vorsichtig genug, sich nicht deutlicher (und eben negativ) dazu zu äußern, aber wir können aus anderen Belegen schon ableiten, woran er positiv glaubte: M. erscheint mir als ein aufgeklärter Polytheist, der diesen Glauben aber nicht offen bekennt und seine Götter weder ausdrücklich benennt noch öffentlich verehrt, sondern insgeheim privat respektiert, mal diesen, mal jenen stärker. Aus seinen Äußerungen erschließbar ist seine positive Beziehung zu Göttern, die dem Menschen Glück zufallen lassen oder schicken, auch zu Göttern oder Göttinnen der Liebe; aber auch der Tod kann ihm als ein ernstes, aber keineswegs böses göttliches Gegenüber erscheinen. M. praktiziert solchen Polytheismus aber immer mit dem Wissen, dass es neben dem Gott, der ihm im Augenblick gerade besonders wichtig ist, noch andere Götter gibt, die zu anderen Zeiten für ihn wichtig waren oder werden könnten. M. hält es damit wie die Katholiken mit ihrem Glauben an die Heiligen. Diese werden für die Gläubigen wichtig, wenn sie gerade gebraucht werden. Wenn man sie nicht braucht, kann man die Heiligen im Himmel und in Ruhe lassen! Denn was soll das Denken und Glauben an den Hl. Christophorus, wenn einer nicht unterwegs ist und auch keinen Fluss oder Meeresarm (z.B. auf einer Fähre nach Skandinavien) zu überqueren hat? Was soll das Stoßgebet an den Hl. Florian ("Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd’s andere an!"), wenn der Himmel blau ist, kein Gewitter aufzieht, kein Blitz und Einschlag zu befürchten ist? Wenn dagegen ein hinreichender Anlass gegeben ist, dann ist der oder die Heilige auch schon in der Nähe: "Santa Barbara bendita, ayuda nos a vivir!" sangen wir in unserem lateinamerikanischen Chor, damit wir vor gestrenger Kritik bestehen konnten! Aber wer war noch der Heilige, den man anrufen kann, wenn man etwas verlegt, verloren oder vergessen hat? Wer hilft mir, wenn ich den Namen gerade dieses Heiligen vergessen habe? Heiliger Sigmund, mach mir die Freud, dass mir der Name dieses Nothelfers wieder einfällt! Ich selber hatte seit meiner Pubertät immer die eine oder andere Göttin verehrt, mal mehr aus der Ferne und mal mehr in der Nähe oder ganz nah; manche Göttin verehrte ich über Monate und Jahre. Vielleicht waren es auch nur unterschiedliche Erscheinungsweisen ein und derselben Göttin der Schönheit, der Anmut und des Liebreizes! M. hätte Verständnis dafür gehabt, weil er tolerant war gegenüber Menschen, die an Götter glauben. Er hütete sich nur, selber positiv von seinen Göttern zu sprechen, weil ihm sein Leben lieb war.
Anstelle eines schlichten Polytheismus ist bei M. eher eine polyphile philosophische Orientierung festzustellen, in der die Vielheit den höheren Rang vor der Einheit hat. Nach H. Friedrich rückt bei M. "an die Stelle des Gattungsbegriffs `Mensch`.. der Begriff der Vielheit, der Individualität und der Unterschiedlichkeit des Menschen" (S. 11). Er sucht nicht das verallgemeinernde Gesetz, sondern das individuelle Bild (S. 11), das Partikuläre eines Dings (S. 149) oder die fallweise verschiedene Wirklichkeit des Menschenwesens (S. 179). Er wehrt sich damit gegen die Gefahr der Gattungsbezeichnungen, "das Verschiedenartige in eine Scheingleichheit mit anderem zu verwandeln und darin zu vernichten" (S. 149). Diese Einstellung bringt M. dazu, solche Vielheit zunächst einmal zu beschreiben und dabei von einem zum anderen fortzuschreiten. Das könnte in einigen Essais als Geschwätzigkeit missverstanden werden und hat tatsächlich dazu beigetragen, dass manche systembauenden Philosophen ihn nicht ernst nahmen, ihn nicht als ihresgleichen anerkennen mochten. Sie müssen dann aber übersehen haben, dass M. innerhalb solcher Folgen von Beschreibungen immer wieder das Wesentliche heraushebt und dass in der Folge der Kapitel deutliche inhaltliche Schwerpunkte festzustellen sind, so die Themen Krankheit und Tod, Sitten und Gebräuche fremder Völker, Kindererziehung, Gewissensfreiheit usw. M. weiß selber, dass sein Stil als anekdotisch und undiszipliniert erzählend missverstanden werden kann, und er klärt den Leser deshalb über die Hintergründe dieses Eindrucks auf: "Ich schweife häufig ab, doch eher mit meine Freiheit nutzendem Vorbedacht als unbedacht; meine Gedanken folgen einander durchweg, wenn auch zuweilen von weitem; sie behalten sich stets im Blick, wenn auch zuweilen nur aus den Augenwinkeln" (S. 501)... "Es ist der unaufmerksame Leser, der meinen Gegenstand aus den Augen verliert, nicht ich. In irgendeiner Ecke wird sich stets ein Wort finden, das, wie knapp auch immer, hinlänglich zu verstehen gibt, worum es geht" (S. 502). Es lohnt sich also, unter der zum Schutz vor Verfolgung aufgesetzten Maske der Geschwätzigkeit den sehr folgerichtig denkenden Philosophen Montaigne zu entdecken.
Hugo Friedrich hebt des weiteren die "antinomische Widersprüchlichkeit" (S. 170) als Thema des Denkens von M. hervor: M. sieht den Menschen, "aus den Hüllen der Vorurteile, der absichtlichen und unabsichtlichen Selbstverfälschung, der Konventionen, der öffentlichen Haltung, der idealisierenden Überlieferung hervorgezogen, ... als Träger aller möglichen Widersprüche" (S. 155). In zahlreichen meist anthropologischen Abwandlungen kehre das Thema der Antinomien bei M. wieder, nach Friedrichs Einschätzung "ein Fortleben der antiken Formel der concordia discors, die heraklitischen Ursprungs ist" (S. 290) und die als "coincidentia oppositorum" bei Nicolaus von Kues eine zentrale Rolle spielt. Für M. ist dies aber nicht eine philosophisch-theoretische Einsicht, sondern primär seine Erfahrung mit sich selbst und mit den Menschen, denen er begegnet ist. Er widmet diesem Thema das erste Kapitel des zweiten Buches unter der Überschrift "Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns". Da schreibt er ganz offen über sich selbst (S. 167): "... Alle Widersprüche finden sich bei mir in irgendeiner den Umständen folgenden Form. Schamhaft und unverschämt, keusch und geil, schwatzhaft und schweigsam, zupackend und zögerlich, gescheit und dumm, mürrisch und leutselig, verlogen und aufrichtig, gebildet und ungebildet, freigebig und geizig und verschwenderisch - von allem sehe ich etwas in mir, je nach dem, wie ich mich drehe; und wer immer sich aufmerksam prüft, entdeckt in seinem Innern dieselbe Wandelbarkeit und Widersprüchlichkeit, ..." und er setzt auf der nächsten Seite (S. 168) fort: "Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinander hängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den andern". Als Psychologe kann ich nur kommentieren: Das hat M. doch wirklich besser gesagt als die heutigen Vertreter der Differentiellen Psychologie und Persönlichkeitsforschung, welche die "interindividuelle Variabilität" mit der "intraindividuellen Variabilität" vergleichen und dabei zu ähnlichen Ergebnissen kommen!
M. erlaubt sich, was anderen verächtlich schien: "Selbstwiderspruch ... Subjektivität, Meinungsbildung aus dem Moment und unendliche Beweglichkeit" (H. Friedrich, S. 120). Und er respektiert damit die Vielheit nicht nur in der ihn umgebenden Welt, sondern auch in sich selbst; er nimmt "die zeitlose Vielfalt des Menschentums" (H. Friedrich, S. 106) als Wandelbarkeit wahr. M. vermeidet mit Bedacht, solche Gegensätzlichkeiten über den einen Kamm von Gut und Böse (bzw. gut und schlecht, himmlisch oben und irdisch unten, göttlich und teuflisch, fromm und sündhaft etc.) zu scheren. Er ist kein Dualist, kein Gnostiker oder Manichäer, der alle Unterschiede auf eine Grundpolarität zurückführen muss, die wiederum alle Differenz bis zum Gegensatz extremalisiert. Er kann vielmehr auf beiden Seiten einer Polarität Negatives (oder Positives) finden, wie in seiner Aufzählung auf S. 167, wo sowohl "geizig" als auch "verschwenderisch" negativ sind gegenüber dem positiven Merkmal "freigebig" (und, ich ergänze: gegenüber dem gleichermaßen positiven Merkmal "sparsam", wobei nach Helbig .... alle vier zum "charakterologischen Wertequadrat" zusammengestellt werden können). Auch die verschiedenen weiteren von ihm aufgestellten Polaritäten stehen je für sich, sind inhaltlich unterschiedlichen Dimensionen zuzuordnen (die in der heutigen Persönlichkeitstheorie faktorenanalytisch definiert werden können). Es ist also richtig, wie H. Friedrich das Denken von M. als ein "antinomisches Gefüge" (S. 289) zu kennzeichnen. Dieses wäre im geometrisierenden Schema nicht mit dem gegensätzlichen Oben versus Unten des Kegels (mit der einen positiven Spitze und der beliebig umfänglichen negativen Basis) wiederzugeben, sondern mit den ausbalancierten Gegensätzlichkeiten innerhalb eines 2-dimensionalen Vielecks oder 3-dimensionalen Vielflächners.
M. selber wählt zur Veranschaulichung des Gemeinten den schon in der Antike (so bei Pythagoras) beliebten Vergleich mit der Harmonie der Töne in der Musik (III. Buch, 13. Kapitel, also im letzten Essay): "Unser Leben besteht, wie die aus dem Gegensätzlichen gefügte Harmonie der Welt, aus ungleichen Tönen, schönen und rauen, hohen und tiefen, sanften und schweren. Was wäre der Musiker, der nur die einen liebte? Er muss mit allen spielen und alle mischen - so auch wir das Gute und das Üble, das beides unserm Leben wesenseigen innewohnt. Unser Dasein kann ohne diese Mischung nicht bestehen, und eine Seite ist dazu genau so notwendig wie die andere" (ich zitiere dies ausnahmsweise nicht aus meinem Exemplar der Essais, sondern nach H. Friedrich, dort auf S. 290, weil ich in meinem Exemplar diese Stelle nicht finden konnte). Bezogen auf das von M. aus seinem eigenen Seelenleben Erfahrbare spricht H. Friedrich von der "harmonischen Breite der gleichwertigen Leib- und Seelenvermögen ..." (S. 32), vom "polyphonen Nebeneinander der menschlichen Bezirke" (S. 32) und vom Menschen als einem polyphonen Wesen (S. 33). Ich fasse zusammen: M. geht es nicht um die quasi kakophonische Verschiedenheit des unendlich Aufzählbaren, als leeres Geräusch vergleichbar dem "weißen Rauschen" der Physik; es geht ihm auch nicht um eine prinzipiell dualistisch verstandene Gegensätzlichkeit von Gut und Böse, sondern vielmehr um die immer neue Polyphonie einer begrenzten Anzahl von Tönen (oder Farben, oder Seinsarten, oder Wesentlichkeiten, etc.). H. Friedrich sieht solche Sichtweise des M. nicht als zufällig an, sondern bezieht sie darauf, dass seit Ende des 15. Jahrhunderts aus der bisher geltenden universalen Norm nunmehr selbständige Wertbezirke sich herauslösten, die relativ unabhängig voneinander Geltung beanspruchen konnten, so etwa in der Idee der Staatsraison, welche die Prinzipien der allgemeinen Ethik als für die politische Praxis, mindestens für Konfliktfälle, unzuständig ansah.