Solche multizentrische Sicht des Menschen und der Welt hat Konsequenzen für das Erkennen. H. Friedrich betont in seiner Montaigne-Biographie mit Recht den Perspektivenwechsel als Methode von M., die Komplexität und Wandelbarkeit einer Sache einzufangen (S. 177). Ein solches Vorgehen "umkreist nur annäherungsweise seinen Gegenstand, den Menschen, oder durchkreuzt ihn mit Für und Wider so lange, bis aus dem dichten Schnittpunktgewebe der gegensätzlichen Aussagen sein komplexes Bild hervorschimmert" (S. 152). M. nimmt mit seinem Perspektivismus einiges vorweg, was uns später bei Nietzsche begegnet, und nicht zufällig sind es bedeutende Psychologen unserer Zeit, die diese Denkorientierung wieder aufgegriffen haben. So sprach mein Göttinger akademischer Lehrer, der Gestaltpsychologe J. v. Allesch, in seinen Vorlesungen von der "Bereichsverschiedenheit" der Charakterzüge, dass nämlich jemand in seinem Beruf durchaus korrekt, pünktlich, gewissenhaft und verlässlich sein kann, aber als dieselbe Person in privaten Beziehungen ein hohes Maß an Unzuverlässigkeit, Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen Anderer aufweisen kann. Der Charakter insgesamt (und verallgemeinert: jede Ganzheit) könne daher nur in einer Folge tangentialer Bestimmungen erfasst werden, von denen keine das "Eigentliche" zu erfassen erlaube, sondern der Ergänzung durch andere Zugänge bedürfe. Ähnliche Themen hat dann C. F. Graumann, mein späterer "Doktorvater", in seiner sehr lesenswerten Monographie über "Perspektivität" aufgegriffen. Nach H. Friedrich gestattet bei M. gerade die literarische Form des Essays, "im Schreiben selber die Perspektiven zu verschieben und alles unter wechselnde Belichtung zu rücken, wobei keine zur endgültigen wird" (H. Friedrich, S. 326). Solcher Perspektivismus sollte nicht mit einem reduktionistischen Relativismus verwechselt werden, für den alles "nur" oder "eigentlich" irgendein "solches" ist: in dieser Sicht wäre die Seele "nur" Materie, die Liebe wäre "nur" hormonbedingt, in der Politik ging es "nur" um Klassendifferenzen, und schließlich, "der Mensch ist (nur), was er isst". Im Gegenteil: anders als der Reduktionismus, der viel Verschiedenes auf eines und nur eines zurückzuführen versucht, betont der Perspektivismus die Vielzahl möglicher Hinsichten auf etwas und verteidigt die Freiheit, eine Perspektive zu wählen, eben auch eine andere als bisher, aus der etwas betrachtet wird. Ich selber spreche gern von einer polyzentrischen Relationalität (nicht: Relativität!), in der verschiedene Seinsarten oder -ebenen aufeinander beziehbar werden, ohne dass eine davon vollständig von einer anderen abgeleitet werden könnte (auch nicht von "Gott"!). Keine der Seinsarten ist nur fundierend, etwa für alle anderen, keine ist nur fundiert (von einer anderen her vollständig bestimmbar). Doch darüber ausführlicher im Schlusskapitel.
Nach H. Friedrich sind für M. die größeren Zusammenhänge von jedem beliebigen Ausgangspunkt her zu erreichen (S. 313). Mit seiner Methode der Vorläufigkeit und des Offenlassens (S. 319) halte M. sich frei im schwebenden Vermuten, das im Spiel mannigfaltiger Perspektiven kreise. Die Vielheit und Wandelbarkeit des Seins, vor allem des Menschen selbst, sei "sprachlich unausschöpfbar ...: Sprache und ihr jeweiliger Gegenstand sind beide in sich selbst beweglich; beide vermögen sich nur in einem flüchtigen Augenblick zu nähern..." (S. 26). Offenkundig sei der Geschmack, den er (M.) am Schriftsteller Platon findet, der die perspektivisch wechselnde Behandlung einer Sache in die Vielheit der redenden Personen auseinanderlegt. Montaigne deute - und mit einem gewissen Recht - den platonischen (H. S.: sokratischen?) Dialog als die angemessene Gestalt eines offenlassenden, schwebenden Denkens. "Seiner Auffassung nach ist der Dialog die schriftstellerische Verwirklichung der Urteilsenthaltung, der Unfixierbarkeit des Geistes wie der Sachen und das Sprachmittel der improvisierenden Subjektivität, die hier ihren Reichtum und ihre wechselnden Perspektiven durch Verteilung auf verschiedene Figuren darstellen kann. Walter Pater (1893) hat in der Dialogtechnik der Griechen (des Platon) das skeptisch essayistische Verfahren hervorgehoben, eine `literarische Form, die sich besonders für ein vielseitiges, aber zögerndes Wahrheitsbewusstsein eignet`, das `sozusagen niemals zu Ende kommt`", (H. S.: unendbar ist!). Man ist hier versucht, von einem Perspektivenwechsel nicht im Dialog, sondern im "Polylog" zu sprechen, möglichst in einer Gesprächsrunde eines Symposions, wo es für die Diskutanten auch etwas zu trinken und ggf. auch etwas zu essen geben sollte!
In den "Essais" wird die Perspektivität nicht abstrakt abgehandelt, sondern im praktischen Zusammenhang realisiert. Ich möchte das an einigen Zitaten deutlich machen. So betont M.: "Die Frage der Religion meines Arztes oder meines Anwalts lässt mich kalt. Sie hat mit den freundschaftlichen Diensten, die sie mir schulden, nichts zu tun; und in den häuslichen Beziehungen zwischen meinen Bedien(ste)ten und mir halte ich es genau so" (S. 103). Und weiter: "In den gegenwärtigen Wirren dieses Staates lässt mich meine Parteinahme weder die rühmlichen Eigenschaften unsrer Gegner noch die unrühmlichen derjenigen verkennen, denen ich folge. Die Leute beten alles an, was auf ihrer Seite ist; ich wiederum finde die meisten Vorgänge sogar auf meiner Seite unentschuldbar" (S. 509), und auf der folgenden Seite (510): "Ich erwähnte an anderer Stelle bereits den religiösen Übereifer, der selbst rechtschaffne Menschen auf Irrwege trieb. (Was mich angeht, kann ich ohne weiteres von ein und demselben Mann sagen: "Hier handelt er verwerflich, und hier untadelig")". Besser kann man die "Bereichsverschiedenheit" (nach v. Allesch) nicht deutlich machen, und es sind eben die spezifischen Hinsichten oder Perspektiven, nach denen die Einschätzung eines anderen Menschen so oder anders ausfallen kann.
Der Perspektivenwechsel ist nun keineswegs nur eine beliebig wählbare oder auch verzichtbare Methode oder gar Mode des Erkennens, etwa bloß Ausdruck der Unbeständigkeit des Beobachters, sondern er ist begründet im Aspektenreichtum und in der Wandelbarkeit des Seins, das unerkennbar wäre für den starr gehaltenen Blick, der das kindlich-neugierige und erwachsen-skeptische Umherschauen verlernt hat. H. Friedrich spricht in diesem Zusammenhang von der "unfixierbaren Spielbewegung des Geistes" (S. 34). Die Skepsis (offenbar wieder im alten Sinne des Wortes gemeint) öffne dem Menschen das Auge "für das von Unerschöpflichkeiten trächtige Wunder der Welt und seiner selbst" (S. 127). H. Friedrich betont die heraklitische Eigenart von M.s Weltbild (S. 132), dessen zentrales Motiv die Veränderlichkeit sei, der fließende Wandel des Dinglichen und Menschlichen. Der Mensch sei bei M. "als Teil alles Seienden ... mitergriffen vom Charakter alles Seienden: fließend, wechselnd, unzuverlässig wie dies" (S. 132).
Zur näheren Kennzeichnung von M.s Weltbild verwendet H. Friedrich einige Begriffe, die schon sprachlich eine bemerkenswerte Ähnlichkeit miteinander haben (ich lasse bei ihrer Aufzählung weg, wovon im jeweiligen Kontext gerade die Rede ist): unerschöpflich ... unfixierbar (S.34), unendlich (S. 120), Unerschöpfbarkeit (S. 125), Veränderlichkeit (S. 132), unausschöpfbar (S. 149), unaufhörlich (S. 152), Wandelbarkeit (S. 170), Unfasslichkeit (S. 179), Unerkennbarkeit (S. 315), Unfixierbarkeit (S. 335), "(etwas), das ... niemals zu Ende kommt" (S. 335). Diese von H. Friedrich verwendeten Begriffe möchte ich am Ende dieses Kapitels - der Leser möge es mir erlauben - zusammenfassen in einer eigenen Aussage: Montaigne betont die Unendbarkeit des Seins und der menschlichen Erkenntnis gegenüber der Allendlichkeit des Monotheos. Sein Philosophieren ist damit griechisch-abendländisch weltoffen, in deutlichem Kontrast zur Abgeschlossenheit, ja zur Provinzialität des jüdisch-christlich-islamischen Glaubens. Angesichts des Gewichts dieser Behauptung muss ich dem Leser und der geneigten Leserin schnell eine Frage stellen, auf die mich M. selber gebracht hat: Habe ich ihn vielleicht mit den letzten Bemerkungen allzu sehr für mein eigenes Denken vereinnahmt? Wo er sich doch gar nicht mehr dagegen wehren könnte! Es gibt allerdings ein probates Korrektiv gegen diesen möglichen Fehler und Sie, liebe Leserin und lieber Leser, haben es selbst in der Hand, dieses Mittel anzuwenden: Lesen Sie doch bitte, das lege ich Ihnen sehr ans Herz, selber die Essais von Montaigne! M. wird Ihnen in den Essais selber erklären, ob und wo ich ihn missverstanden und fehlgedeutet habe! Und auch wo ich ihn verstanden und angemessen vermittelt habe! Das zu tun hatte ich mir jedenfalls vorgenommen.