2.5.4.1. Wie viele Aspekte können sinnvoll unterschieden werden?

Ich habe an anderer Stelle (2.3.3.2.) in pluralistischer Sicht verschiedene Aspekte des Ganzen unterschieden, die ich als nicht von einem Urgrund etc. ableitbare, sondern als je für sich bedeutsame Wesentlichkeiten aufgefasst habe. Bevor ich mich wieder inhaltlich mit den verschiedenen Wesentlichkeiten befasse, möchte ich der mehr formalen Vorfrage nachgehen, mit welcher ungefähren Anzahl unterscheidbarer Subsysteme, Aspekte, Perspektiven etc. oder auch Götter wir in einem pluralistischen Ansatz rechnen sollten, und zwar allein schon aus praktischen und ästhetischen Gründen, noch unabhängig von ihrer inhaltlichen Charakterisierung. Im Zahlenraum zwischen 0 und ∞, besser: zwischen 1 und 100, sollten es eher kleinere Mengen sein, die noch mit einem Blick überschaubar sind, aber dabei noch genügend Unterschiede und eben das je Besondere des Einzelnen erkennbar werden lassen. Ich beginne aus historischen Gründen, allerdings nicht mit übertriebener Pietät, mit der Eins, und werde dann in der Zahlenreihe fortschreiten bis zu einer Größenordnung, in der die Übersicht allmählich verloren gehen könnte. Die Unendlichkeit dagegen interessiert schon gar nicht mehr!

Die 1 ist mir zu monistisch, monoman, monoton, monarchisch, monopolistisch und monotheistisch. Bei der 1 regt sich in mir sofort der Widerspruch: "Contr´un!", wie die postumen Anhänger des Etienne de La Boetie (Autor der "Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft") ausgerufen hatten. Gegen die 1 spricht schon das Unheil, das die Monotheismen, Monopole und Einheitsparteien über die Menschen gebracht haben. Und Monumente (was allerdings von lat. monēre "mahnen" abgeleitet ist) sind meist einfach zu groß und versperren die Aussicht. Auch die undifferenzierte Einfalt ( O Sancta Simplicitas!), die Einseitigkeit und die Einsamkeit sind nicht gerade positiv. Die 1 bietet viel zu wenig Möglichkeiten für Unterscheidungen, nämlich gar keine. Positiv ist immerhin die Universität, solange sie nicht auf ein Fach begrenzt ist, menschenfern dagegen das Universum, das All, allendlich groß, allendlich viel in sich und damit in Eines einschließend. Wenn ein Teil das Ganze zu sein beansprucht, wirkt es nur totalitär, sich selber verabsolutierend wie der absolutistische Monarch von Gottes Gnaden. Die meisten -ismen sind Vereinseitigungen, ebenso das reduktionistische "nichts als...", "nur ... ", "bloß ... ", "allein ... ". Allein der Glaube? Nur dieser Glaube allein? Etwa gar der alleinseligmachende? Das wäre mir zu einseitig, so einfach und simpel sollten wir es uns nicht machen! Für die 1 spricht am ehesten noch der Eintopf, aber er sollte doch deutlich mehr als eine Zutat enthalten! Ich nehme vorweg: 7 Kräuter braucht die "Grüne Soße", wirklich lecker! Für die 1 spricht auch die Monogamie: es sind immerhin 2, die sich monogam zusammengetan haben, und dann könnten es bald noch mehr werden! Und welcher vernünftige Mann will schon zwei Frauen oder gar noch mehr gleichzeitig? Höchstens nacheinander, dann aber wieder jeweils monogam (bis die Kinder groß sind)!

Auch die 2 begegnet uns mit negativen Konnotationen im Zwist, z.B. in der Zwietracht und im Zweifel, dazu gehört noch das Dilemma und der Diabolos, der Teufel als Widersacher Gottes. Gegen die 2 spricht auch die geschichtlich erwiesene Schädlichkeit aller gnostisch-manichäischen und anderen Dualismen, ihr Gegensatz von Himmel und Hölle, gut und böse, ihr Freund-Feind-Denken, und die Schwarz-Weiß-Malerei mit ihren Drohungen und Verheißungen. Die Zweiteilung der Menschheit in Auserwählte und Verdammte hat eine lange Vorgeschichte, sie ist verbunden mit einer größenwahnsinnigen Selbstverherrlichung und paranoiden Fremdverdammung, kehrt wieder in der "rassistischen" Unterscheidung zwischen Ariern und Nicht-Ariern (= Juden), und in der Überheblichkeit der "Weißen" (so als gäbe es keine achtenswerten "Gelben", "Roten" und "Schwarzen", von den vielen so ansprechenden Zwischentönen und denen mit Sommersprossen einmal ganz abgesehen!). Auch politisch würde die Gegenüberstellung von Links und Rechts die mögliche Vielfalt der Parteienlandschaft zu sehr vereinfachen, ebenso wie der scheinbare Gegensatz von fortschrittlich und konservativ: erst nach der Revolution merkt man, wie konservativ die vormals Fortschrittlichen dann werden können (vgl. Horkheimer und Adorno, Die Dialektik der Aufklärung)! Zu nennen wären noch die vereinseitigenden Polaritäten von Geist und Leben (L. Klages), bewusst und unbewusst (S. Freud), und auch von männlich und weiblich: als gäbe es keine Menschen, für die der Geschlechtsunterschied noch nicht (wie bei den Babys) oder nicht mehr so sehr (wie bei manchen Alten) eine solch große Rolle spielt, dies im Unterschied zu denen, die immer nur an das Eine denken! Interessant, dass Dualitäten so einseitig sein können! Und zwei Dimensionen sind einfach zu flach! Die bilaterale Symmetrie ist zwar praktisch und hat sich bewährt bei vielen Lebewesen, die sich auf einer Fläche fortbewegen, geradeaus oder mal mehr links, mal mehr rechts, aber sie ist zugleich auch etwas langweilig: dasselbe noch einmal, nur umgeklappt! Bei 2 Dimensionen (auch bei 4, 8 und bei allen geradzahligen Anordnungen) kann es leicht zu einer Umpolung des Wertesystems kommen: Das vorher Gute erscheint nun als "böse", das vorher Böse dagegen als "gut". Tertium non datur! Das ist natürlich eine binärlogische Einseitigkeit

Gegen die 3 ist schon weniger einzuwenden. Für die 3 spricht schon die Dreidimensionalität unseres Raumes: man merkt es bewusster, wenn man ein Auge eine Zeit lang zuhält, was das Wahrgenommene etwas verflacht, und wenn man dann wieder mit beiden Augen deutlich räumlicher sieht. Aber im Raum sollten es dann schon 3 gleichwertige Dimensionen sein, ohne Vorrechte des Oben gegenüber dem Unten, des Vorderen gegenüber dem Hintern und der "Rechten" gegenüber den Linken. Denn da käme doch die dualistische 2 wieder ins Spiel, und 2 x 3 wären schon 6! Immerhin ist die 3 dynamischer als die 2 und die 1; drei Partner können wechselnde Koalitionen eingehen, jeweils 2 gegen einen. Aber das schafft auch Konkurrenzen und Konflikte: unter dem störenden Dritten leiden die 2 anderen, und ein hilfreicher Dritter ist selten. Das leichte Umkippen solcher Koalitionen kann ärgerlich sein: das Dritte ist oft eine Art FDP! Und Ampelkoalitionen (mit Grün) sind auch nicht immer besser. Schwierig ist auch die tripersonale Ein-Kind-Familie mit Vater, Mutter und dem ersten oder einzigen Kind, oft mit einem Konkurrenzverhältnis von Vater und Kind um die Liebe der Mutter des Kindes, die zugleich Partnerin des Mannes ist. Zwei Eltern gegen ein Kind ist noch schlimmer! Oft sind nicht nur 2, sondern 3 oder mehr Generationen im Spiel, wo sich die Enkel und Großeltern gegen die Eltern verbünden können. Es ist aber auch eine einträchtige Verbindung von allen Dreien möglich, quasi eine Dreieinigkeit. Die Trinität (Dreifaltigkeit) von Gottvater, Sohn und Heiligem Geist ist ein Mysterium, mit dem kaum ein Christ etwas anzufangen weiß (außer mal zu Pfingsten), und auch die Hegelsche Dialektik mit ihrem Dreischritt (fast hätte ich geschrieben: Dreisprung!) von These, Antithese und Synthese hat die Menschheit nicht weiter gebracht, sondern eher etwas zurückgeworfen, nämlich einen vor, zwei zurück: Vielleicht fehlte da noch etwas, so vielleicht neben Gott, seinem Sohn und dem Heiligen Geist noch die Gottesmutter Maria und noch ein paar Heilige eigener Wahl, das wären dann schon über 5! Als Ordnungsprinzip wirkt die Dialektik einschränkend, man denke nur an die Hegelschen Systemkonstruktionen (quartum non datur). Und schließlich: die 3 Instanzen des psychischen Apparates nach S. Freud sind zwar schon besser als die vorhergehende Unterscheidung von bewusst und unbewusst, aber wo bleibt das Selbst? Und noch manches Andere, das unser Erleben und Verhalten bestimmt? 3 sind zu wenig. Fast hätte ich es vergessen: 3 Spitzen hat der Mercedes-Stern, ein wirklich schönes Zeichen! Und drei Gewalten hat Montesquieu unterschieden: die Legislative, die Judikative und die Exekutive. Aber das kann im Bereich der Politik nicht das Letzte sein: dazu gehört noch eine freie Presse (und andere Medien) und die Freiheit der Wissenschaft, schon wieder mehr als 3, nämlich mindestens 5.

Warum wählen wir nicht die 4? Sie erscheint als weiblich, mittenzentriert; 4 Gliedmaßen haben die Wirbeltiere (wir selber: 2 Beine und 2 Arme). 4 Wochen von je 7 Tagen hat der (Mond-)Monat, 4 Jahreszeiten (Frühling, Sommer, Herbst und Winter) gliedern das Jahr. Vier Beine hat der Tisch, der Stuhl und manches andere Möbel. Aber das ist gar nicht so ungefährlich: vier Beine lassen einen Stuhl kippelig werden, er kippt nach vorn oder hinten, nach links oder rechts. Jeder moderne Bürostuhl hat deshalb 5 Beine bzw. Rollen, das ist bei uns sogar vorgeschrieben. Aber die 4 hat noch andere Nachteile: Gegen die 4 spricht nämlich, dass sie leicht in zwei Polaritäten auseinander fällt, 4 = 2 x 2 = 2 + 2 ! Das Verdoppeln von Verdoppelungen oder Halbieren von Hälften ist so recht etwas für Zwangsneurotiker: "... und dann gibt es wieder 2 Möglichkeiten." Jede Hälfte läßt sich weiter halbieren, und ein Viertel auch wieder, und so weiter in einem infiniten Regress. Die Doppeldualität eines 4-Felder-Schemas kombiniert 2 Alternativen. Das Werte-Quadrat nach Helbig (in einem der ersten Hefte der "Psyche" diskutiert) kombiniert 2 Dimensionen mit je positiver und negativer Ausprägung, also 2 Polaritäten, und ist damit zutiefst dualistisch. Nehmen wir das Beispiel:

+ sparsam
freigebig +
   
- geizig
Geld verschleudernd -

In Wirklichkeit gibt es fließende Übergänge zwischen diesen Merkmalen. Dennoch kann die 4 gut zur Kategorisierung verwendet werden, ist dann aber auch ansonsten oft mit Bewertungen verbunden, in Gut-Böse-Dualismen festgelegt. Es sind daher die kleinen Abweichungen von der bilateralen Symmetrie, die uns vor der dualen Polarisierung und schließlich der Monopolisierung (des Guten!) bewahren. Radiale Symmetrien auf Primzahl-Basis schützen vor Bilateralität, u. a. auch vor der Teilung der Welt in Gut und Böse. Mindestens 5 Kategorien sollten es aber schon sein!

Die 5 ist nämlich in meiner Sicht schon wieder besser; zunächst ist nichts gegen sie einzuwenden. Der 5-Stern ist eigentlich sehr schön in seiner radialen Symmetrie, die auch als bilaterale Symmetrie gesehen werden kann und dann in einer bestimmten Position mit ausgestreckten Beinen und Armen und mit erhobenem Haupt recht menschenähnlich aussieht.

Denken wir auch an die 5 Ringe des Olympia-Enblems, die vielleicht die 5 Großkontinente (Europa, Asien, Afrika, Amerika, Australien) symbolisieren. Aber ist Europa nicht vielleicht nur eine Halbinsel von Asien, und gibt es nicht 2 oder gar 3 Amerikas: Nord-, Mittel- und Süd-Amerika? Es könnten in den 5 Ringen auch die 5 Großrassen mitgemeint sein: die "weißen" Europiden, die "gelben" Mongoliden, die "schwarzen" Negriden, die "roten" Indianiden und die "braunen" Australiden. Aber wo bleiben die vielen Zwischentöne? Auf eine ähnlich willkürliche Weise könnte man auch 5 Großreligionen aufzählen: Konfuzianer, Buddhisten, Juden, Christen und Muslime. Aber sind die letzten 3 nicht eher Sekten ein und desselben Glaubens an den einen Gott des Moses? Und wo bleiben in dieser Aufzählung die japanischen Shintoisten und schließlich die Hunderte von Stammesreligionen? Es gibt noch andere Beispiele für 5-Zahligkeit: Die 5 Sinne (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken) verbinden uns sensorisch mit unserer Umwelt. Die 5 läßt sich an den 5 Fingern einer Hand abzählen, aber hat diese nicht einen Daumen in Opposition zu vier Fingern? Das läßt auch an das "fünfte Rad am Wagen" denken, das beim Pferdewagen wirklich überflüssig war und daher leicht ausgeschlossen wurde, während es beim Auto als Lenkrad zu besonderen Ehren kommt. Die 5 ist also spannungsreich, es kommt bei ihr leicht dazu, dass aus ihr eines ausgeschlossen wird oder spontan herausfällt, und dann eine 4er-Konstellation übrig bleibt. Die 5 ist instabil, kippt über zur 4 oder verdoppelt sich zur 10, und in beiden Fällen kommt wieder eine 2 ins Spiel! In der Verdoppelung zur Zehn steckt die 5 im dekadischen System unserer Zahlenreihe, z.B. mit den 5- oder 50-Pfennig- und 5-Mark-Stücken, weil Halbierungen einer 10er-Potenz offenbar nahe liegen. All dies ist verbunden mit unserer Art zu zählen, zu rechnen, zu messen, zu wiegen (1 Pfund = 500 Gramm), zu sortieren, oder im Gefängnis die Tage zu zählen: 4 Striche und einen quer, usw., usf.!

Auch gegen die 6 spricht nur wenig, schon ihr Name (sex) nimmt für sie ein. In der 6 sind die 3 ersten Zahlen der Zahlenreihe multiplikativ miteinander verbunden: 1 x 2 x 3 = 6, das ist ein ganz praktischer Ansatz, der die gute Teilbarkeit bedingt, die in der 12 (2 x 6) noch eine Stufe weitergeführt wird. Darauf komme ich noch zurück. Es ist auch nicht verkehrt, die so dualistische 2 mit der auflockernd nicht-bilateralen 3 zu kombinieren. Immerhin haben sich 6 Beine (= 3 Beinpaare) bei den Insekten über mehrere Hundert Millionen Jahre als Mittel flinker Fortbewegung bewährt. Gegen die 6 spricht allerdings, dass sie zu leicht in Dualität und Trinität auseinanderfallen könnte, ein für Nicht-Christen schon etwas irritierender Gedanke. Die 6 ist auch sehr eng mit dem Judenstern verbunden, der die Durchwirktheit der irdischen Welt durch die Gottheit versinnbildlichen soll und dazu zwei Trinitäten ineinander verschränkt: Zwar sind Welt und Gottheit hier in Form und Größe gleichrangig, aber ein Gott ist mir doch zu wenig für diese große bunte Welt!