2.5.4.6. Religion und Philosophie als Doppelzentrum eines gegliederten Ganzen

Wir sollten sogar etwas dafür tun, dass das Philosophieren und die Religionen, die ja wie wir sahen vergleichbare Intentionen haben, in ihrem engen Bezug zueinander klarer erkannt und verständlicher dargestellt werden. So sollte eine philosophische Globaltheorie Möglichkeiten bieten und auch den Anstoß dazu geben, auf verschiedene religiöse und auch ideologische "Weltbilder" bezogen und in neue Sichtweisen (das ist ein Plural!) des Ganzen umgesetzt zu werden. Diese sollten besser als jede abstrakte Theorie den schon aus historischen Gründen unterschiedlichen Verstehensmöglichkeiten von kulturell und religiös unterschiedlich orientierten Menschengruppen entgegenkommen. Um diese letzten Überlegungen zu unterstreichen, möchte ich die gleichermaßen ganzheitsbezogenen Religionen und Philosophien in die Mitte des von mir als Vieleck dargestellten Schemas der 7 Wesentlichkeiten setzen, und zwar beide, die Philosophien und die Religionen, so nahe nebeneinander, wie sie es, im Eigeninteresse der Erhaltung ihrer Unterschiede, gerade noch ertragen und zulassen können. Beide zusammen würden aber den Kern (oder etwas gewählter ausgedrückt: den Nukleus) des Ganzen bilden, über den die verschiedenen Seinsbereiche, wie sie gleichgewichtig rund um diesen Kern aufgereiht sind, zusätzlich aufeinander beziehbar werden. Dieser Kern hat somit die Funktion eines Kommunikations-Zentrums, um das herum ggf. noch weitere oder neue Aspekte gruppiert werden könnten.

Der Kern des Ganzen ist, ganz räumlich gesehen, ein Doppel-Zentrum, ziemlich in der Mitte des Ganzen, mit Beziehungen zu allen 7 (oder mehr) Seinsbereichen, er selber aber eben doch nicht "oben", die abhängigen Untergebenen von oben bestimmend, sondern eher in der Funktion, die relativ selbständigen Teilaspekte des Ganzen in all ihrer Diversität dennoch integrativ in sich aufzunehmen. Man könnte es auch so sehen: die von irgendeinem Punkte dieser Peripherie zum Kern führenden Anstöße werden, im Durchgang durch diesen Doppelkern und dann in ständiger Bewegung durch das Ganze integrativ verarbeitet und wieder zur Peripherie zurückgeleitet, ggf. auch zu anderen Schnittpunkten dieser Peripherie hinführend, und auf diese Weise die Einzelaspekte miteinander verbindend.

Was fangen wir damit an, dass in der Mitte des Ganzen ein Doppel-Kern ist, ein gemeinsam Zentrales und dennoch voneinander Verschiedenes, quasi eine eingebaute Differenz, die zu Spannungen führen könnte und führen muss? Ich bekenne, dass ich bei dieser Konstruktion zumindest nicht die Absicht hatte, Philosophie und Religion gegeneinander aufzubringen, etwa wie im Gegensatz zwischen atheistischer Philosophie und aufklärungsfeindlicher fundamentalistischer Religion. Im Gegenteil, ich möchte beide Bereiche im Kern des Ganzen einander annähern, und zwar nicht in kupplerischer oder philanthropischer Absicht, sondern ganz einfach weil dies in der Natur der Sache liegt: denn das Zentrum sowohl des Glaubens als auch des Philosophierens ist der glaubende und zweifelnde Mensch, so dass die mythischen Bilder der Religionen mit guten Recht anthropomorph sein dürfen und auch die Philosophie immer nur anthropozentrisch, nämlich humanistisch sein kann. Wir können davon ausgehen, dass die Welt in ihren verschiedenen Aspekten nur von uns Menschen als Ganzheit erfahrbar und in Grenzen gestaltbar ist. Die Philosophie ist, wie schon vor ihr die Religionen, in der Mitte des Seins, nicht weil sie etwas Besseres oder ganz besonders Gutes wäre, sondern weil sie aus dieser Mitte heraus zur Ganzwerdung des Seins beitragen kann, aus einer Mitte der Welt, ja des ganzen Seins, in der wir uns als Menschen so selbstverständlich vorfinden. Sind nicht alle Sterne gleich weit von uns entfernt am Himmelsgewölbe? In dieser Frage steckt keine astronomische Aussage, denn dann wäre sie falsch, sondern ein subjektiver Eindruck, dem sich kaum einer entziehen kann. Er ist so subjektiv wie mein Gefühl, dass ich mitten in Marburg wohne, in der Stadt, in der ich so gern zu Hause bin, und dass Marburg mitten in Hessen liegt, und Hessen mitten in Deutschland, und Deutschland mitten in Mitteleuropa. Sogar Europa wird in deutschen Atlanten meist in die Mitte der Weltkarte gerückt, obwohl jeder wissen kann, ich weiß es auch, dass Europa am westlichen Rande von Eurasien liegt, einer Halbinsel ähnlicher als einem Kontinent, und Eurasien liegt auf der Nordhalbkugel der Erde, und die Erde ist keineswegs die Mitte des Sonnensystems. In der Mitte ist vielmehr die Sonne, aber diese wiederum befindet sich irgendwo auf einem Spiralarm unserer Galaxie, die wir als "Milchstraße" bezeichnen, und diese wiederum....

So kann mein Standort und darüber hinaus der Standort der Menschheit immer weiter relativiert werden bis zu Lokalisierungen, in denen das Wort "Mitte" seine Anschaulichkeit und schließlich seinen Bedeutungsgehalt zu verlieren droht. Und dennoch macht es Sinn, wenn sich der Mensch in der Mitte des Seins sieht. Der Mensch? Was heißt das eigentlich? Ist damit etwa gar das Individuum gemeint, als ein "unteilbares" Wesen verstanden, darin ähnlich dem ebenso unteilbaren all-einzigen Gott, seinem Gegenüber, beide je für sich im Singular formuliert? Die monotheistischen Religionen und die davon beeinflusste Philosophie, und zwischen beiden die Mystik, insbesondere die christliche, sie sind wie verrannt in das polare Gegenüber von Gott und Mensch. Die Mystiker nähern Gott und Mensch bis zur unio mystica einander an. Da ist dann nichts mehr außer Gott und seinem Ebenbild, das mit ihm verschmilzt, vielleicht weil Gott ohnehin immer schon ein (narzisstisches!) Spiegelbild des Menschen war. Andere Menschen und andere Götter stören da nur! In dieser spiegelbildlichen Ich-Du-Beziehung (M. Buber) fehlt nicht nur der "störende" Dritte, sondern noch mehr der hilfreiche Dritte. Denn es ist nicht gut, wenn der Mensch als Individuum mit seinem Gott ganz allein ist, jeder von beiden einzig und allein, und schließlich beide einsam. Das wird nicht besser, wenn sie nebeneinander sitzen, wie etwa der "auferstandene" Jesus zur Rechten Gottes; ein erlöster Adam, der zu seinem Schöpfer heimgefunden hat. Wo sitzen eigentlich ihre Frauen?