3.1.3. Ausgang von der Alltagserfahrung: Das Erleben von Schwere

Wie im vorigen Abschnitt angesprochen, gehe ich davon aus, dass wir über aller "Einzelwissenschaftlichkeit" nicht den Kontext vergessen sollten, in dem Wissenschaft entstanden ist. Das gilt auch für die Physik und ihre Theorie der Gravitation. Wir sollten zumindest in der Lage sein, mit Laien über Schwere zu reden, ohne ihnen gleich mit abstrakten Begriffen und mathematischen Formeln zu kommen. Schwere ist nicht nur ein Thema der Physik, sondern auch eine Erfahrung des Lebendigseins. Wir vergessen zu leicht, auf das zu achten, was wir täglich erleben, wir übersehen das Selbstverständliche, verlieren vor lauter Wissen das Sichwundern- und Fragen-Können. Kleine Kinder können das noch, mancher Erwachsene sollte es wieder lernen.

Auch wer das Fachwort "Schwerkraft" und das gleichbedeutende Fremdwort "Gravitation" nicht kennt, weiß doch um die damit bezeichneten Phänomene: der Fettleibige trägt an der Last seines eigenen Körpers, der Lastenträger transportiert Schweres auf seinen Schultern, der Arbeiter bewegt Lasten auf seiner Schubkarre. Moderne Technik hat uns (aber nur "uns" in den hochtechnisierten Ländern!) viel davon abgenommen. Die Mutter von Kindern braucht sich nicht mehr wie früher so sehr und über längere Zeit mit dem Baby und dazu noch mit Trinkwasser, Lebensmitteln und Hausrat abzuschleppen. Die nebenberufliche Hausfrau und entsprechend der Hausmann verfügen oft schon über einen Zweitwagen. Weniger bemittelte Europäer seufzen schon auf der Treppe im vorletzten Stockwerk: Einen Aufzug müssten wir haben! Wie schwer ein Mensch ist, merkt man erst richtig, wenn er sich nicht mehr auf den eigenen Beinen halten und fortbewegen kann, wenn er getragen werden muss. Er selber merkt es, wenn ihm seine Beine ihren Dienst versagen, wenn er sich auf andere Weise weiterschleppen muss. Der schwangeren Frau fällt es jeden weiteren Monat schwerer, sich und ihr Bündel in ihrem Bauch, die wachsende Leibesfrucht mit allem Drum und Dran, eine Treppe hoch zu tragen. Ihre Schwangerschaft wurde von den Römern ganz angemessen als "graviditas", also als Schwere bezeichnet, wovon unser Fremdwort "Gravidität" abgeleitet ist (lat. gravis "schwer"). Aber auch starke Männer können Schwere fühlen: Wie verdutzt kann ein Städter sein, wenn er zum ersten Mal in die Verlegenheit kommt, einen größeren Feldstein ein paar Meter weiterzuschleppen, um seinen Zeltplatz frei zu räumen. Der sah doch gar nicht so schwer aus! Wohl auf solche Erfahrungen bezogen sprachen Physiker von „dem Versuch, die vertrauteste aller Naturkräfte zu verstehen: die Schwerkraft“ (N. Arkani-Hamed, S. Dimopoulos und Georgi Dvali: Die unsichtbaren Dimensionen des Universums. Q 56).

So negativ manche solcher Schwere-Erfahrungen sein können, so gibt es auch umgekehrt das positive Erleben bei plötzlicher Erleichterung. Die schwere Last endlich losgeworden zu sein, im Wasser sein eigenes Gewicht nicht mehr zu spüren, das kann richtig gut tun. Oder noch besser: im Traum fliegen zu können, über Bäume und Häuser springen zu können - ich habe es als Kind so geträumt - das war wirklich wunderbar. Durch die Schwerkraft bewirkt gibt es Abwärts-Bewegungen, die wir genießen können, angefangen mit dem Sprung des Kindes vom Mäuerchen in die Arme der Mutter, oder aber, mit noch mehr "thrill", vom Vater ein Stück hochgeworfen zu werden und gleich wieder herunter in seinen sicheren Griff zu fallen. Ein Kind, das schon laufen kann, genießt es um so mehr, ab und zu mal wieder getragen zu werden. Erinnern Sie sich: Purzelbäume machen, einen Wiesenabhang herunter, im Winter bergab Schlitten fahren, mit dem Fahrrad einen mühsam erstrampelten Hügel im Freilauf wieder herunterrollen - hoffentlich funktionieren die Bremsen!

Es geht nicht nur um die eigene Bewegung. Es macht schon Spaß, jedenfalls für Kinder, mit der Schwerkraft von Objekten zu spielen, z.B. Steine von einer Böschung oder Brücke ins Wasser plumpsen zu lassen, eine Papierschwalbe vom obersten Stockwerk nach unten segeln zu lassen oder, noch in meiner Kindheit, einen Holzreifen mit einem Stöckchen weiter zu treiben und am Rollen zu halten. Oder im größeren Maßstab: nachts Feuerräder ins Tal herunterrollen zu sehen. Und nicht zu vergessen, es gibt die ganz kleinen, sanften Fallgenüsse: wenn ein warmer Sommerregen herunterrauscht, wenn im Herbst Blätter fallen und Baumfrüchte quirlig noch etwas weiter getragen werden, und wenn im Winter dicke Schneeflocken fallen und draußen alles sanft zudecken. Wenn es nur nicht so kalt wäre, könnte man wünschen, selber so leise und sanft vom Schnee zugedeckt zu werden. Es gibt also auch eine ganz positiv erlebte, auch ganz sanft wirkende Gravitation, auf geringe Ausmaße gemindert, z.B. wenn wir ins Wasser gleiten und uns von ihm tragen lassen. Oder wieder in der Wirkung etwas verstärkt, wenn wir in der Badeanstalt vom Sprungturm springen und wenn ein Waghalsiger den Kopfsprung vom überhängenden Felsen ins Wasser riskiert. Und das Maximum ist immerhin vorstellbar: in Norwegen von einem über 500 Meter hohen Felsen, dem "predigt-stolen"(?), in die Tiefe des Fjords springen, den kurzen Flug noch rauschhaft genießen und dann nach dem Aufprall im Wasser schon tot sein. Das sei aber nicht zur Realisierung empfohlen, weil das den Einheimischen und den Touristen nur Aufregung und Unannehmlichkeiten bereiten würde. Sie wollen von diesem Felsen aus einfach nur die Fernsicht genießen und den Kitzel des Höhenschwindels durch ein paar Schritte zurück unter Kontrolle halten. Für die Wagemutigeren bleibt ja der Sprung mit dem über eine längere Strecke noch ungeöffneten Fallschirm oder eher noch der Kopfüber-Sprung am Bungee-Seil, der für Geübte als gefahrlos gilt.

Schwere kann man auch ganz ungefährlich und mit einfachen Mitteln genießen, als etwas, was uns unmerklich immer wieder zum Erdboden zurückführt, wenn wir umhergehen, wandern, joggen, im hügeligen Gelände umherklettern. Nur wenn wir uns in das Geäst eines Baumes hoch wagen, müssen wir auch den Rückweg sichern, damit wir ohne Sturz und Verletzungen unten wieder ankommen. Bei solchen Unternehmungen können schon kleine Kinder erste Rekorde schaffen: "Ich war der erste oben!" - "Ich bin am weitesten oben!", und Erwachsene riskieren den allersteilsten Aufstieg, die "Direttissima" der Eigernordwand, und Reinhold Messner schafft ganz alleine alle Berge über 8000 m Höhe. Der Erste! Am Höchsten! Da scheint einer die Schwerkraft besiegen zu können, schließlich sogar im freien Klettern ohne jedes Hilfsmittel, ohne Seil und Haken, einfach so. Da wird Klettern zum Hochleistungs-Hochrisiko-Sport, wie ja überhaupt der Sport im üblichen Fall ein Spiel und Kampf mit der Schwerkraft ist: schneller, weiter, höher (lat.: "citius, fortius, altius“). Angefangen hat es ganz ohne Hilfsmittel: Weit- und Hochsprung, dann unter Ausnutzung von Hebelwirkung und Elastizität: der Stabhochsprung, und schließlich mit Erhöhung der Anlauf-Geschwindigkeit, mit Fallverlängerung nach unten und Aufgleitsicherung und zusätzlich unter Nutzung von Auftriebskräften der Luft: das "Skifliegen", mit Rekordflügen von über 200 Metern.

Der Psychoanalytiker Michael Balint (Angstlust und Regression, Rowohlt TB, Reinbek 1972) hat solche Tätigkeiten oder auch nur den Wunsch, so etwas zu können, als "philobatisch" bezeichnet, als die Lust, sich ins Hohe, Tiefe, Weite zu begeben, dabei aufkommende Risiken zu überwinden und dies bei den Schwerkraft-Thrills auf den Rummelplätzen sogar zu genießen. Das fängt schon mit den ersten Stand- und Gehversuchen des Säuglings an, wo man oft richtig den Stolz des kleinen Kindes spüren kann, wenn es ihm erstmals und schon wieder gelingt, auf eigenen Beinchen zu stehen und die ersten Schritte zu schaffen, ganz alleine und selber! Schon der aufrechte Gang des Menschen ließ einen ursprünglich auf vier Füßen laufenden Primaten wenigstens "ein Stück weit" die Schwerkraft überwinden, verschaffte ihm zwei zum Greifen und Tragen, Werfen und Stoßen freie Hände und einen freieren Blick nach vorn und oben und rundherum.

Motiviert durch die Möglichkeit, als Träumender fliegen zu können, haben Menschen seit Ikarus immer wieder versucht, die Schwerkraft wenigstens kurzfristig und schließlich wie ein segelnder Vogel auf längere Zeit zu überwinden. Der erste Schritt dazu war vielleicht tatsächlich das "Segeln" auf dem Wasser, das mit dem Auftrieb des "luftgefüllten" Bootes das Versinken im Meer verhinderte und zugleich mit dem am Mast aufgespannten Segel eine erste Praxis und Vorstellung davon vermittelte, wie man sich vom Wind und von der Luft nach vorne und schließlich sogar nach oben tragen lassen könnte. Über den Gleitflug und das Aufwindsegeln mit immer vogelähnlicheren Segelflugzeugen, daneben mit der Nutzung von Propeller, Düse und Rakete als Antriebsmittel, hat der Mensch die Schwerkraft schließlich so weit zu überwinden gelernt, dass er in künstlichen Satelliten sein Gewicht wie auf magische Weise verlieren und innerhalb des Raumschiffs schwerelos schweben kann. Er kann dann in 90 Minuten die Erde umrunden, sogar den Mond, mit der Möglichkeit, von dieser himmlischen Perspektive aus die Erde zu betrachten. Das schuf eine ganz neue Beziehung zu unseren großen Himmelskörpern Sonne und Mond. Dass sie am Himmel ihre Bahn ziehen, war für erlebensfähige Menschen schon immer eine Ehrfurcht weckende Erfahrung; sie immer wieder sehen können, auch nach ihrem zeitweiligen Verschwinden am Tage oder in der Nacht, das ließ sie so wichtig werden, dass sie als Gott und Göttin verehrt wurden. Aber auch auf Erden gab es eindrucksstarke Naturphänomene, so beispielsweise das Wasser, das im Bergbach jedes Hindernis überwindet, um sich weiter unten mit weiteren Bächen zu vereinigen und nach der Schneeschmelze unten im Tal alles mit sich zu reißen, bis es schließlich im behäbigen Fluss und Strom über längere Zeiten fast zur Ruhe kommt. Auch der Weg des Wassers zum Meer gehört zu den Urerfahrungen, die wir heute mit dem Begriff "Schwerkraft" so nüchtern benennen. Aber es ist immer noch spannend, dem nachzugehen, was da in diesen Phänomenen eigentlich geschieht, wie sie verursacht werden, und wie der so treffend benannte Verursacher, "die Schwerkraft", selber verursacht sein könnte.