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Parallel zu den im Laufe der Jahrhunderte klarer werdenden Vorstellungen über die tatsächlichen Bewegungen der großen Himmelskörper, der Sonne, des Mondes, der Planeten und schließlich der Erde selbst, gewannen Astronomen und Physiker eine vertiefte Kenntnis der Naturgesetze, insbesondere über die gravitativen Kräfte, durch die solche Bewegungen erklärt werden konnten. Wir werden daher im folgenden sowohl die Fortschritte in der Klärung der relativ aufeinander bezogenen Bewegungen der Himmelskörper, als auch die Fortschritte in der Erkenntnis der sie bewegenden Kräfte zu würdigen haben.
Schon die vorsokratischen Philosophen haben sich mit dieser Thematik befasst. Eine auch auf die Gravitation beziehbare Unterscheidung verschiedener Kräfte finden wir bereits bei dem Philosophen Empedokles von Akragas (ca. 490/85 - ca. 425 v. Chr.). Aus dem Vorlesungsmanuskript des Pharmaziehistorikers Fritz Krafft (Geschichte der Atomistik bis John Dalton. Institut für Geschichte der Pharmazie der Universität Marburg, 1991 - 1992, S. 39 - 46) entnehme ich folgende Informationen: Empedokles sieht in der verbindenden Liebe (Philia) und im trennenden Streit (Neikos) zwei kosmische Mächte, die das gesamte Universum durchdringen und von denen die unveränderlichen Elementarpartikel der vier Urstoffe (Erde, Wasser, Luft und Feuer) bewegt werden. Auch Liebe und Streit seien körperlich-stofflicher Natur und auf diese Weise wirksam. Dabei bewirke die Liebe die Vereinigung des Gleichen, der Streit die Trennung des Ungleichen. Diese wechselnden Einflüsse bewirken immer neue Mischungen und Entmischungen des Seienden, das aber weder aus Nichts entstehen noch in Nichts vergehen könne. Wir werden später sehen. dass sogar ein und dieselbe Kraft sowohl Trennung (zentrifugale Bewegung: nach außen) als auch Vereinigung (zentripetale Bewegung: nach innen) bewirken kann, je nachdem ob die Kraft zwischen den Partikeln oder Körpern ansetzt und diese von innen auseinander treibt oder auf diese von außen auftrifft und sie einander annähert. Das sah Empedokles noch anders: er betonte die augenscheinliche Gegensätzlichkeit der Trennung und Vereinigung von Materie, was er in "Liebe" und "Streit" zu veranschaulichen und auf eine symbolische Ebene zu heben versuchte.
Demokrit (460/59 - 400/380 v. Chr.) griff diese Thematik auf. In seinen naturwissenschaftlichen Schriften befasste er sich u.a. mit einer Beschreibung des Kosmos, mit den Planeten und mit Ursachenerklärungen für Himmelserscheinungen (Jaap Mansfeld: Die Vorsokratiker II. Reclam, Stuttgart, 1983, S. 257 - 259). Auch zum Problem der Schwere äußerte er sich ausdrücklich: Schwer und leicht unterschied Demokrit anhand der Größe der Atome. In Konglomeraten sei dasjenige leichter, was mehr Leeres in sich habe, schwerer dagegen, was weniger davon habe. Er unterschied dabei aber klar das Harte bzw. Weiche vom Schweren bzw. Leichten: Das Eisen sei zwar härter, das Blei dagegen schwerer, denn das Eisen habe trotz einiger Verdichtungen im Ganzen mehr Leeres als das ansonsten homogenere Blei, das zwar schwerer, zugleich aber auch weicher sei als das Eisen. Demokritos erweist sich in solchen Passagen als ein genauer Beobachter, auch im folgenden Fragment, das ich nach F. Krafft (S. 64) wiedergebe: Dass Gleiches zu Gleichem strebe, sehe man nicht nur bei stammesgleichen Tieren, sondern ebenso bei unbeseelten Dingen wie bei den Kieselsteinen im Bereich der Meeresbrandung. Infolge der Wellen werden die länglichen Kiesel zur selben Stelle wie die anderen länglichen getrieben, und die runden zu den runden, als ob die Ähnlichkeit in den Dingen hierbei etwas sei, das eine Anziehungskraft ausübe. Diese Formulierung lässt m.E. deutlich den Unterschied zwischen zwei Interpretationen der Vereinigung des Gleichen erkennen: Werden die Kiesel zu den anderen ähnlichen Kieseln getrieben (etwa durch Wellenbewegungen) oder werden sie von den ähnlichen Kieseln angezogen?
Ganz ausdrücklich und ausführlich befasst sich Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) mit der Gravitationskraft. Ich gebe seine darauf bezogenen Ansichten zusammenfassend nach ihrer Darstellung durch F. Krafft wieder (S. 96 - 102). Aristoteles unterscheidet wie Empedokles verschiedene Elemente, vor allem die Erde und das Feuer, und er schreibt diesen Elementen unterschiedliches Gewicht zu (darin ähnlich wie Demokritos argumentierend): Wie jedermann sehe, bewege sich jeder feste Körper, also "Erde" und Teile von "Erde", von sich aus nach unten, Feuer und Flamme dagegen stiegen immer nach oben. Bei der Frage nach den Ursachen dieser unterschiedlichen Bewegungsrichtungen kommt Aristoteles zu einem im Prinzip teleologischen Ansatz: diese ohne fremdes Zutun von außen ganz spontan erfolgenden Bewegungen müssten dem jeweiligen Element eigentümlich, seiner spezifischen Natur gemäß sein. Der Antrieb für diese Bewegungen befinde sich in dem Körper selbst als Wirkung seiner besonderen "Form" und wirke als seine Bewegungstendenz, so dass man das Fallen eines schweren und das Steigen eines leichten Körpers nur dadurch verhindern könne, dass man ihn durch äußere Krafteinwirkung davon abhalte oder durch ein Hindernis, gegen das er dann einen Druck ausübe. Ungehindert strebe der Körper selbst also zu seinem "natürlichen Ort", zu dem ihm naturgemäßen Platz in der Welt.
Solche Bewegung setzt demnach ein Ziel (Telos) voraus: "Nach unten" bedeute "zum Welt-(oder Erd-)Mittelpunkt hin", "nach oben" bedeute "in Richtung auf die Peripherie" der sublunaren Welt. Und zwar erfolgten solche "natürlichen" Bewegungen geradlinig und senkrecht, also bezogen auf den Erdmittelpunkt radial (zentrifugal oder zentripetal). Ähnlich wie die Erde bewege sich auch Wasser nach unten, und ähnlich wie das Feuer bewege sich auch Luft nach oben. Wasser sei also schwerer als Luft und Luft leichter als Wasser, und beide hätten ihre jeweilige Schwere relativ zur absolut schweren Erde und zum absolut leichten Feuer. Dem entspreche die Schichtung der Elemente in der Welt, die als Kugel vorgestellt wurde. Die Kugelform der Erde hatte man schon vor Aristoteles aus Beobachtungen von Mondfinsternissen erschlossen, bei denen sich der Erdschatten stets als kreisförmig begrenzt erwiesen hatte. Die Erdkugel nehme die Weltmitte ein; um sie herum schlössen sich in konzentrischen Kugelschalen die Elemente Wasser, Luft und Feuer in dieser Reihenfolge an. Die kosmologische Annahme von Aristoteles, dass es einen kreisbeweglichen Äther gebe (offenbar von Descartes wieder aufgegriffen), möchte ich nur erwähnen, ohne darauf näher einzugehen.
Epikur von Samos (341 - 270 v. Chr.) bestimmte den senkrechten Fall als die grundlegende, naturgemäße Urform der Bewegung. Er hat auch die Körperlichkeit des Menschen in die gravitativ bedingte Stufenfolge eingeordnet (F. Krafft, S. 112): auch beim Menschen sei ein "Oben" und "Unten" zu unterscheiden, und zwar befände sich der Kopf immer oben, und die Füße befänden sich immer unten. Dass es in der Regel dabei bleiben möge, wollen wir hoffen.
Dieser historische Rückblick bedarf einer wichtigen Ergänzung: Der hellenistische Astronom und Mathematiker Aristarch von Samos lebte in der Zeit von etwa 310 bis 230 v.Chr. und hatte schon um 265 v.Chr. wohl als erster die Ansicht vertreten, dass die Erde und die damals bekannten fünf Planeten die Sonne umkreisen. Er wäre somit, knapp 1800 Jahre vor Kopernikus, der eigentliche Begründer des heliozentrischen Weltsystems. Er gab auch die erste einigermaßen genaue Methode zur Bestimmung kosmischer Entfernungen im Verhältnis zum Erddurchmesser an und versuchte auch die Abmessungen von Sonne und Mond, bei letzterem sogar in der richtigen Größenordnung, zu bestimmen. Seine diesbezügliche Abhandlung "Von der Gestalt und den Entfernungen der Sonne und des Mondes" ist uns erhalten geblieben (K. Simonyi, S. 99/100). Vom heliozentrischen System des Aristarch haben wir mittelbar Kenntnis über Archimedes und Plutarch. Nach Archimedes (285 - 212 v.Chr.) hat Aristarch " ... ein aus gewissen Hypothesen bestehendes Buch herausgegeben, in dem ... er voraussetzt, dass die Fixsterne und die Sonne unbeweglich seien, dass die Erde sich in einer Kreislinie um die Sonne bewege, die im Mittelpunkt der Bahn liege" (Archimedes' Werke. Hrsg. Sir Th. L. Heath. Deutsch von Dr. Fritz Kliem, 1914; zitiert nach K. Simonyi, S. 83). Plutarch (46 - 120 n.Chr.) gibt in seinem Werk "Das Gesicht des Mondes" (De facie in orbe lunae) die Meinung eines Kleanthes wieder, "die Hellenen müssten Aristarch von Samos wegen Gottlosigkeit vor Gericht stellen, weil er 'den Herd des Kosmos (H. Sch.: die Erde!) bewege' - denn Aristarch nahm an, dass der Fixsternhimmel still stehe, die Erde aber in einem schiefen Kreis umlaufe und sich dabei gleichzeitig um ihre eigene Achse drehe" (zitiert nach K. Simonyi, S.88). N. Kopernikus hat dieses Werk Plutarchs, in dem die heliozentrische Theorie von Aristarch eine Rolle spielt, offenbar gekannt (K. Simonyi, S. 85). Aber dass über die ganze Zeit der Christianisierung Europas von dieser heliozentrischen Theorie keine Rede mehr war, dass sie erst seit Kopernikus (1512) wieder so erfolgreich weiterentwickelt werden konnte, ja dass diejenigen, die sie vertraten, mit dem Scheiterhaufen rechnen mussten oder wie Galileo Galilei wenigstens mit der lebenslänglichen Verbannung auf ein abgelegenes Landgut, abgeschnitten vom freien Austausch mit den gelehrten Astronomen und Physikern seiner Zeit, das sollte uns doch zu denken geben.