3.2.3. Erste Ansätze zur Erklärung der Gravitation als Stoßkraft

Im Latein der mittelalterlichen Gelehrten wurde zwischen "vis a tergo" und "vis a fronte" unterschieden. Als vis a tergo ("Kraft von hinten") verstand man eine Kraft, die einen Körper durch Druck oder Stoß in Bewegung setzt. Bei menschlichen Körpern, bei denen - im Unterschied zu den Fixsternen - das Gesicht und der Hintern sich deutlich voneinander unterscheiden, kann die vis a tergo natürlich auch in einem Boxschlag nach vorn ans Kinn des Gegners bestehen, aber die dadurch bewirkte Bewegung, der "knock out" mit einem Sturz nach hinten, setzt die Bewegungsrichtung der Faust des Angreifers fort, wirkt also keinesfalls als Anziehung (zur schlagenden Faust hin), sondern als Abstoßung (von dieser Faust weg), ist also insofern auch eine "vis a tergo". Eine "vis a fronte" hingegen wirkt als eine "Kraft von vorne", als Anziehungskraft, am anschaulichsten demonstrierbar durch einen Magneten, der etwa kleine Nägel aus geringer Entfernung zu sich hin "ziehen" kann und sie dann "festhält". Noch eindrucksvoller ist, dass zwei Stabmagneten mit ungleichnamigen Polen einander anziehen, mit anderer Polkombination dagegen deutlich spürbar einander abstoßen. Das beste Beispiel für Anziehung ist natürlich die gegenseitige Zuneigung zweier Menschen. Oder ist dabei auch ein Antrieb "a tergo" im Spiel, der den einzelnen Menschen dazu treibt, den anderen sogar zu suchen, selbst wenn ihn dieser noch gar nicht an sich gezogen hat oder dies gar nicht beabsichtigt?

Auch bei der Gravitation konnte man ganz theoretisch zwischen einer „Anziehungskraft“ (= vis a fronte) und einer durch Korpuskeln vermittelten Stoßkraft (= vis a tergo) unterscheiden. Einen entscheidenden Fortschritt zu einer Korpuskulartheorie der Gravitation sehe ich in dem Beitrag von Isaac Beeckman (1588 - 1637), einem Schüler des niederländischen Naturforschers Simon Stevin (1548 - 1620). Stevin hatte in einem 1586 erschienenen Buch einen Fallversuch beschrieben, in dem er feststellte, dass die Fallgeschwindigkeiten unabhängig von der Größe und Schwere der fallenden Kugeln waren (Simonyi, S. 210). Beeckman versuchte in seinem Tagebuch in Aufzeichnungen seit dem Jahre 1618 die Kräfte, die den freien Fall bewirken, theoretisch zu erfassen. Simonyi (S. 211) gibt Beeckmans Argumentation zusammenfassend wie folgt wieder: "Nehmen wir an, dass die Gravitation in der Form vieler schnell aufeinanderfolgender kleiner Stöße wirkt. Jeder Stoß möge einen gleich großen Geschwindigkeitszuwachs zur Folge haben ...Wenn die von einem einzigen Stoß erteilte Geschwindigkeit v0 und der zeitliche Abstand der Impulse t0 ist, dann wächst die Geschwindigkeit...stufenförmig an ... Die Gravitation wirkt in Form kleiner Hammerschläge". Wenn nun die Zahl der Impulse pro Zeiteinheit erhöht wird, dann geht die stufenförmige Zunahme der Geschwindigkeit in eine Gerade über, "und wir können schließlich - als Schlussfolgerung - die Aussage ableiten, dass die Geschwindigkeit (des fallenden Körpers) der Zeit proportional ist". Ich möchte ergänzend bemerken, dass die Fallgeschwindigkeit eines Körpers im Vakuum natürlich nicht größer als die Höchstgeschwindigkeit der in einer bestimmten Richtung wirkenden "Hämmerchen" werden kann, denn irgendwann können diese den durch sie immer weiter beschleunigten Körper nicht mehr einholen. Nach Simonyi hatte Beeckman zahlreiche wahrhaft revolutionäre Einsichten gehabt, und es sei die Meinung verbreitet, dass Descartes ihm viele seine Ideen verdanke.

Auch bei dem berühmten französischen Philosophen und Naturforscher René Descartes (1596 - 1650) spielen Stoßprozesse zur Erklärung von Impulsänderungen eine besondere Rolle. Er griff zur Erklärung einiger Naturphänomene auf atomistische Vorstellungen zurück und führte die Übertragung von Korpuskularbewegungen auf benachbarte Teilchen darauf zurück, dass dabei Stoßkräfte wirksam werden. Dazu Simonyi (S. 218): "Descartes (hat) die Ausdehnung und die ... Bewegung als primäre Eigenschaft der Materie angesehen ... Davon ausgehend hat Descartes gefordert, alle Eigenschaften einschließlich der Gravitationswirkung auf die Ausdehnung und Bewegung der Körper zurückzuführen ... Bei einem solchen Herangehen ist es verständlich, dass eine Wechselwirkung zwischen den Körpern nur bei ihrer Berührung möglich ist, so dass die Stoßprozesse und Stoßgesetze eine besondere Bedeutung in der gesamten kartesianischen Naturphilosophie gewinnen". Konsequenterweise hat Descartes fernwirkende Anziehungskräfte als bloß okkulte (geheimnisvoll wirkende) Größen angesehen und verworfen (vgl. Simonyi, S. 220). Er war der Ansicht, dass irdische Körper ihre Schwerkraft dem nach unten gerichteten Druck der Korpuskeln einer feinstofflichen Materie verdanken, verkomplizierte diese Alternative allerdings durch eine Wirbeltheorie der Gravitation, die gegenüber dem Ansatz von Beeckman als Rückschritt angesehen werden muss, wenngleich sie bis heute (so z.B. bei Chr. v. Mettenheim, 1998, S. 121) immer wieder aufgegriffen wurde, in meiner Sicht ohne bleibenden Erfolg.

Auch Pierre Gassendi (1592 - 1655) griff in seiner Philosophie auf den antiken Atomismus zurück und vertrat eine schon neuzeitliche mechanistische Physik. In der Mechanik formulierte er ein Trägheitsprinzip, er bestätigte die Existenz eines Vakuums durch das Barometer und trug insgesamt mit seiner Theorie vom Aufbau der Materie aus Atomen wesentlich zur Wiederbelebung der antiken atomistischen Lehren bei. Auch Nachfolger von Descartes und Gassendi betonten, dass die Ursache der Schwerkraft in von außen wirkenden Korpuskeln bestehen müsse, die schwere Körper nach unten stoßen. Wenn diese zwar unsichtbaren, aber materiellen Teilchen auf massive Körper treffen, übertragen sie auf diese einen Teil ihrer Bewegung und bewirken dadurch ihr Fallen. Seit Gassendi und Descartes hatte sich unter Naturwissenschaftlern die Auffassung durchgesetzt, dass die unbelebte Materie nicht imstande sei, von sich aus (etwa einem aristotelischen Telos entgegenstrebend) eigene Bewegungen oder Bewegungsänderungen in Gang zu bringen. Daher musste als Ursache der Schwerkraft eine von außen (bzw. von hinten: a tergo) wirkende Kraft angenommen werden, welche bei uns auf Erden schwere Körper so nach unten treibt, dass sie wie der Apfel vom Baum auf den Boden fallen. Insbesondere in Hinsicht auf die Bewegungen des Mondes um die Erde und der Planeten um die Sonne erschien es außerdem als unvorstellbar, dass ein Körper über eine riesige Entfernung auf einen anderen Körper wirken könne, ohne irgendwelche Vermittler, die sich zwischen diesen Körpern befinden und deren Kräfte übertragen.

Wenn wir bei einer Erklärung durch eine "vis a tergo" die Kugelgestalt der Erde ihre Drehung um sich selbst und ihren Weg um die Sonne berücksichtigen, kann der die Schwere bewirkende Druck nicht "von oben" kommen, sondern (vom Erdmittelpunkt her gesehen) nur von außen. So sah es schon der Genfer Mathematiker Nicolas Fatio de Duillier (1664 – 1753) in seinem 1685 verfassten Manuskript, in dem die Rede ist von einem starken Strom (von außen) in Richtung auf das Zentrum der Erde, der alle Körper "nach unten" drückt. Je größer die Menge der Materie eines solchen Körpers, um so stärker die Einwirkung eines solchen Stroms. Da ist zu fragen: warum ist der schwermachende Druck ausgerechnet zentripetal auf den Mittelpunkt der Erde gerichtet? Wäre das nicht eine sehr "geozentrische" Auffassung, die dem Ptolemäus alle Ehre machen müsste? Fatio hätte seine Überlegung also noch einen Schritt weiter führen müssen, um die Erde aus einer solchen Sonderrolle zu befreien. Es "zieht" ja nicht nur die Erde schwere Körper und sogar den Mond "an", sondern auch die Erde selber und alle anderen Planeten werden von der Sonne gerade so weit "angezogen", dass sie sich auf ihren elliptischen Umlaufbahnen halten, statt von der Fliehkraft in den Weltraum hinausgetrieben zu werden. Das hat Konsequenzen für die Herkunft der Druckkräfte, die kleinere Körper gegen einen größeren Körper drücken und ggf. auf ihn fallen lassen. Um diesen Effekt zu begründen, muss angenommen werden, dass die den Druck ausübenden Kräfte von überall her kommen, auch wenn sie dann schließlich in Richtung auf den Mittelpunkt eines einzelnen größeren Körpers wie die Erde wirken. Die beiden gegeneinander gedrückten ("voneinander angezogenen") Körper könnten beliebig große, auch gleich große Himmelskörper sein. Das führt zu der folgenden Verallgemeinerung, die für alle Körper gelten könnte, die einander näher sind im Vergleich zu entfernteren anderen Körpern: man braucht dann nur die Strahlungsrichtung so zu definieren, dass sie nicht mehr aristotelisch von ihrem Ziel ("telos"), beispielsweise vom Mittelpunkt eines anziehenden Körpers her bestimmt ist, sondern von ihren Ausgangspunkten, etwa zunächst von überall her. Die einzelnen Korpuskeln der Strahlung wären demnach nicht mehr konzentrisch auf den Mittelpunkt eines bestimmten, in der Regel kugelförmigen größeren Körpers ("nach unten") gerichtet, sondern erreichen aus allen Richtungen kommend (isotrop) alle Körper zunächst gleichermaßen "von außen". Solche vermittelnden Agentien hatten demnach ausschließlich die Funktion, Stoßkräfte weiterzugeben, und nicht etwa Zugkräfte in der Art eines Gummibandes auszuüben. Eine Kraftwirkung ganz ohne vermittelnde Körper wurde als „okkult“ (verborgen, geheim, übersinnlich) angesehen und von den damals modernen Naturwissenschaftlern verworfen. So galt noch zu Newtons Zeit nur der direkte Berührungskontakt (Druck oder Stoß) als akzeptable Erklärung für eine physikalische Wirkungsausbreitung zwischen materiellen Körpern.