3.2.5. Georges-Louis Le Sage: Korpuskeln bewirken die Gravitation

Eine angemessene physikalische Erklärung der von Newton mathematisch präzisierten Schwerkraft-Wirkungen musste erst noch gesucht werden, auf der Basis der Vorarbeiten von Beeckman und von Fatio de Duillier, und dies geschah durch den Genfer Wissenschaftler Georges-Louis Le Sage (1724 -1803). Er war zwar nicht der erste, wohl aber der bedeutendste unter den frühen Vertretern einer Korpuskulartheorie der Gravitation. Auf seinen Beitrag werde ich daher noch mehrfach zurückkommen.

Matthew R. Edwards (Induction of Gravitation in Moving Bodies. PG 137) belegt ausführlich, dass die Idee, die Schwerkraft sei durch Stoßkräfte ("push") von außen bedingt, eine lange Geschichte hat. Sie reicht auf Zeiten noch vor Newton (1643 - 1727) zurück und erstreckt sich über nunmehr vier Jahrhunderte. Die komplizierte Geschichte der Theorienentwicklung schon vor Newton und seit seiner Formulierung des Gravitationsgesetzes ist im Buch "Pushing Gravity" so kenntnisreich dargelegt worden, dass ich nur empfehlen kann, die Beiträge von James Evans ("Gravity in the Century of Light", PG 9 - 40), Frans van Lunteren ("Nicolas Fatio de Duillier on the Mechanical Cause of Universal Gravitation", PG 41 - 59), E. J. Aiton ("Newton's Aether-Stream Hypothesis and the Inverse Square Law of Gravitation", PG 61 - 64) und Matthew R. Edwards ("Le Sage's Theory of Gravity: the Revival by Kelvin and Some Later Developments, PG 65 - 78) im Original nachzulesen. Geschichte, auch Wissenschaftsgeschichte, lässt sich nicht gut zusammenfassen. Um sie verständlich darzustellen, ist manchmal epische Breite nützlich, schon um die genialen und in Einzelfällen schillernden Persönlichkeiten der Protagonisten gebührend würdigen zu können. Was die inzwischen schon albernen sowjetischen und anderen Prioritätsansprüche betrifft (siehe die Formulierung "Lomonosov-Le Sage-Hypothese" in: V. V. Radzievskii and I. I. Kagalnikova: The Nature of Gravitation, PG 79!), so betone ich hier eher die Vielzahl der an der Theorienentwicklung beteiligten Forscher. Aber obwohl Le Sage sicher nicht der erste war, so hat er doch schon sehr früh eine bis heute in ihrem Aspektenreichtum imponierende Gesamtdarstellung vorgelegt, von der vieles noch heute Bestand hat. Insofern ist es berechtigt, ähnliche Theorien anderer Autoren (so auch die Theorie, die ich selber in späteren Abschnitten entwickeln werde) als Theorien vom Le Sage-Typ zu bezeichnen.

Selbst wenn somit sicher ist, dass Le Sage nicht der Erste war, der sich Gedanken über "pushing gravity" gemacht hat, so kommt ihm doch das Verdienst zu, eine solche Theorie erstmals ausführlich und geschlossen formuliert und veröffentlicht zu haben, und zwar in seinem "Essai de Chymie Méchanique" (verfasst 1755, gedruckt 1761). Die dort vorgetragenen Gedanken werden von J. Evans in Auszügen referiert. Als Kurzfassung daraus gebe ich die folgende Reihe von Argumenten wieder (PG 24/25): Immer wenn wir die wahre Ursache für irgendeine Zustandsänderung eines Körpers herausgefunden haben, dann geschah diese durch einen Druck von außen. So kann man annehmen, dass auch die gravitative Annäherung von zwei Körpern aneinander (die "gegenseitige Anziehung") in Wirklichkeit durch den Druck irgendeiner unsichtbaren Materie bedingt ist. Ihre Partikel müssen sich in sehr großer Geschwindigkeit bewegen. Sie durchdringen den Raum, ohne sich gegenseitig dabei zu stören und sie erreichen die Erde aus allen Richtungen. Sie bewegen sich auf geradlinigen Bahnen. Die Korpuskeln sind so klein, dass sie die Materie fast ungehindert durchdringen können, außer einem geringen Anteil von Korpuskeln, die absorbiert werden und dann einen gravitativen Druck auf die Körper ausüben. Le Sage selber spricht zusammenfassend von "Korpuskeln, isolierten, sehr kleinen, welche sich auf geraden Bahnen bewegen, in einer großen Zahl verschiedener Richtungen, und welche auf sehr durchlässige Körper auftreffen. Voilà, folglich, die einzig mögliche materielle Ursache der Anziehung" (J. Evans PG 25).

So etwa hätte man weiterdenken und weiterforschen können, aber das geschah nur in seltenen Bemühungen von Außenseitern, die weiterhin mechanische Modelle zur Erklärung der Schwerkraft vorschlugen, allerdings ohne Anerkennung zu finden. Denn durch Newton war die "Anziehungskraft" zu einem festen Begriff geworden, durch das Gravitationsgesetz anscheinend bestätigt, dies aber nicht wirklich, denn dieses Gesetz gibt nur die Geometrie der Ausbreitung wieder, sagt aber nichts über ihre Wirkungsrichtung und über die vermittelnden Agentien aus. So konnte sich Newtons Ansatz, die Gravitation als „Anziehungskraft“ zu kennzeichnen, dennoch durchsetzen, und er gilt noch heute als fraglos richtig. Noch der Physiker Wilhelm H. Westphal (1882 – 1978), von dem es im Brockhaus heißt, er habe „als Verfasser von Lehrbüchern der Physik ... eine breite Wirkung“ erreicht, verwandte in seinem 1963 in 5. verbesserter Auflage erschienenen Lehrbuch (Kleines Lehrbuch der Physik, 265 S.) auf vier Seiten Text des Abschnitts „V. Die Gravitation“ 14 mal die Worte „Anziehung“ bzw. „ziehen ... an“, dies also mit der deutlich erkennbaren Absicht, dass diese Formulierungen auch so verstanden werden, wie sie gemeint sind und vorgetragen werden: als zutreffende Beschreibung dessen, was da bei der Gravitation vor sich geht. Inzwischen ist für die meisten Gebildeten die Erklärung der Schwere von Objekten durch ihre Anziehung von der Erde so offenkundig, dass sie anscheinend kein weiteres Nachdenken erfordert. Sogar ein Astronom wie H. Arp bekennt sich zu dieser Naivität (Halton Arp: Foreword. The Observational Impetus for Le Sage Gravity. In: Pushing Gravity, S. 1 = PG 1), und sie war bei ihm, wie er schreibt, sogar noch zu einem "Mantra" ergänzt, das da lautete: "Massen ziehen einander an umgekehrt proportional zum Quadrat ihrer Entfernung", und das von ihm über viele Jahre nie in Frage gestellt worden war.

Nun könnte man gegen die Kritik an Newtons Rede von der "Anziehungskraft" einwenden, dass dieser Begriff heute doch nur noch als inhaltslose Formel verwendet würde, ähnlich wie die physikalischen Begriffe "Energie", "Impuls" und „Trägheit“, die sich von ihrem jeweiligen auf Menschen bezogenen Wortsinn weit entfernt haben. Denn so geläufig beispielsweise der Begriff der Wärmeenergie geworden ist, so würde man sehr heiße Körper doch nicht als "energisch" bezeichnen können, und Impulsmessungen der Quantenphysik setzen keine "impulsiven" Quanten voraus. Energisch und impulsiv sind allenfalls die Forscher, die mit solchen inzwischen völlig versachlichten und streng operationalisierten Begriffen umgehen, und „träge“ sind schlimmstenfalls diejenigen, die das Wort „Trägheit“ weiterhin unbesehen und unverstanden verwenden, um den Widerstand von Korpuskeln und Massen gegen die Veränderung der bisherigen Geschwindigkeit und Richtung ihrer Bewegungen zu kennzeichnen.

Es hat bis heute immer wieder Versuche einzelner Autoren gegeben, den großartigen Entwurf von Le Sage wieder aufzugreifen, ihn umzuformulieren und zu ergänzen, z.T. mit dem Effekt einer „Verschlimmbesserung“, aber auch mit einer inzwischen möglichen triftigeren Begründung. In der Nachfolge von Le Sage und unter Rückgriff auf frühere Autoren gibt es eine breite Variation zwischen solchen Theorien, die den streng korpuskularen Ansatz von Le Sage weiterverfolgen oder ihn neu aufnehmen (wie ich selber), und anderen Theorien, die entweder noch mit einem mehr oder weniger klassischen "Äther" als Medium (v. Mettenheim) oder mit elektromagnetischen Feldern extrem hoher Frequenz (Radzievski und Kagelnikova) oder aber großer Wellenlänge (Kierein) rechnen. Auf dieses Hin und Her von Pro und Contra der Gravitationstheorien zwischen Le Sage auf der einen und Newton oder sogar Einstein auf der anderen Seite möchte ich im Folgenden aber nur insoweit näher eingehen, als es zur Verdeutlichung der Hauptpunkte dieser Kontroverse dienlich sein könnte.

Unter den Beiträgen verschiedener Autoren zu dem genannten Reader möchte ich den von Tom Van Flandern (Gravity. PG 96) hervorheben, der bei der Schwerkraft eindeutig von einer Kraft ausgeht, die von Agentien (= vermittelnden Substanzen) übertragen wird. Eine Fernwirkung ohne irgendwelche kraftübertragende Trägersubstanzen würde das Kausalitätsprinzip verletzen, würde die Erklärung auf Magie zurückfallen lassen. Die Kausalität sei aber ein ganz fundamentales Prinzip der Physik, von höherem Rang als physikalische Einzel"gesetze" wie Newtons Gravitationsgesetz. Während Naturgesetze mit zunehmender Naturerkenntnis korrigiert und zumindest umformuliert werden könnten, seien Grundprinzipien wie die Kausalität eng verbunden damit, wie wir die Realität insgesamt als etwas objektiv Äußeres erfahren und ihre Zusammenhänge mit Hilfe der Logik verstehen könnten, im Unterschied zum bloß Vorgestellten oder Geträumten (T. Van Flandern, PG 93).