3.2.10. Massenpunkte, Singularitäten und Unendlichkeiten

Wenn versucht wird, Feld- und Wellentheorien der Gravitation mit Quantentheorien der Kernphysik zu vereinigen, umspannt ein solches Vorhaben eine Unzahl von Größenordnungen von dem kleinsten Massenpunkt, ja einer punktförmigen Partikel ohne Masse, bis zu den Unendlichkeiten des Universums. Das gilt schon für die Gravitationstheorie selbst, die zwar zunächst in der Analyse von "Anziehungskräften" über astronomische Entfernungen zwischen Erde, Mond und Sonne, allgemeiner zwischen einem Zentralgestirn und seinen Planeten bzw. Satelliten entwickelt wurde, aber wie schon in der Kernphysik auch hier die Frage der Quantisierbarkeit der Energien aufkommen lässt. Immerhin ist in der Fachwelt schon heute, wenn auch noch sehr hypothetisch, von Gravitonen die Rede, obwohl es schwer vorstellbar ist, dass diese über astronomische Entfernungen hinweg als "Austauschteilchen" fungieren, was in der Mikrowelt der Atome eher als möglich erscheint. Aber fast unmessbar klein sind alle bisher bekannten Quanten, und das sollte wohl auch für Quanten gelten, die Gravitation bewirken. Und je winziger sie sind, um so weniger laden sie dazu ein, ihnen einen Umfang oder gar ein Volumen zuzuschreiben, und man könnte versucht sein, sie erst einmal als Punkte zu behandeln. Nun sind aber Punkte in der Geometrie keineswegs "winzig", sie sind weder klein noch irgendwie groß, da sie gar keine Ausdehnung haben. Punkte sind offenbar nur Schnittpunkte von Linien, die selber wiederum überhaupt keine Querausdehnung haben, also weder einem dicken Tau noch einem zartesten Spinnfaden zu vergleichen sind, aber sich dennoch in einem Punkte treffen können, so z.B. die drei Koordinaten des dreidimensionalen Raumes.

Als der Mathematiker Hermann Minkowski im Jahre 1908 den Begriff der Raumzeit einführte, bezeichnete er die Punkte dieses nunmehr vierdimensionalen Gebildes als Ereignisse (M. Alcubierre, G 72). Und Karl Schwarzschild (1873 - 1916) fand eine exakte Lösung der Einsteinschen Feldgleichungen: das Feld einer Punktmasse (U. Borgeest, G 66). Das könnten schon erste Fehler der Theorieentwicklung gewesen sein, denn die Materie-Partikel wehren sich gegen ihre Verpunktung und rächen sich mit dem Aufkommen von Unendlichkeiten, die jede mathematische Berechnung sprengen. Wer etwas Materielles auf den "Punkt" bringt und damit zur "Null" macht, kommt dann leicht in die Verlegenheit, dass sich etwas, was darauf bezogen wird, leicht zum unendlichen Wert hochrechnen lässt. Das ist eine alte Erfahrung, schon aus der christlichen Theologie: Je mickriger der Mensch, um so unendlicher der Gott, und umgekehrt!

W. Benger (G 60) geht näher auf die physikalischen Aspekte dieser Problematik ein und sieht in der physikalischen Singularität der Allgemeinen Relativitätstheorie das heikelste Problem einer Raumzeit. Der Raumzeit-Punkt sei per definitionem nicht berechenbar. Und hier helfe nur eines: diesen Punkt rechnerisch mit allen Mitteln zu vermeiden. Denn wenn in der numerischen Relativitätstheorie irgendein Wert unendlich werde, sei er nicht mehr handhabbar, so etwa im Umgang mit den sogenannten Singularitäten, die in der Allgemeinen Relativitätstheorie und in ihren Ableitungen eine große Rolle spielen. Eine Singularität ist ähnlich wie in der Mathematik auch im Sprachgebrauch der Physik ein Punkt, in dem der analytische Ausdruck für eine physikalische Größe unendlich wird bzw. in dem die bekannten physikalischen Gesetze ihre Gültigkeit verlieren. Als Singularitäten gelten beispielsweise die elektrische Ladung als punktförmige Quelle eines elektromagnetischen Feldes, aber auch der als Anfangs-Singularität bezeichnete Zustand des Universums, in dem die gesamte Materie des heute beobachtbaren Universums noch mit unendlicher Dichte und Temperatur in einem Punkt konzentriert war, der dann im "Urknall" auseinander platzte. Dieser wiederum ergibt sich durch Zurückverfolgen der Entwicklung des Kosmos. Dem Urknall ist gegenüber zu stellen, dass heute offenbar das ganze Universum als unendlich groß angesehen wird (diese Hinweise von B. F. Schutz, G 12). Ein Punkt dehnt sich zur Unendlichkeit, ist das nicht schon Theologie? Aber auch zwischenzeitlich und in begrenzten Raumbereichen gibt es Phänomene, in denen wir es mit dem Problem der Unendlichkeit einer Singularität zu tun bekommen. Dazu schreibt Alcubierre (G 74): "Betrachtet man jedoch eine Punktmasse, also einen Körper, dessen Masse vollständig in einem Punkt konzentriert ist, dann ergeben sich einige Überraschungen: Ab einem gewissen Abstand zur Punktmasse ist die Gravitation so stark, dass es von dort selbst mit Lichtgeschwindigkeit nicht mehr gelingt, dem Feld zu entfliehen - stattdessen fällt ein Körper zwangsläufig in die Singularität und vergrößert deren Masse ... Da nicht einmal Licht dem Feld entrinnen kann, nennen es die Astrophysiker ein Schwarzes Loch".

H. Nicolai und M. Pössel (G 77 ff.) sind dieser Problematik nachgegangen. Sie gehen davon aus, dass nach der Allgemeinen Relativitätstheorie im Inneren Schwarzer Löcher Raumzeit-Singularitäten auftreten, in denen die Raumzeit abrupt endet. Diese Singularitäten seien oft verbunden mit "unendlich" starken Gravitationskräften und "unendlich" hohen Energiedichten. Die Relativitätstheorie liefere hier keine vernünftige Beschreibung der Raumzeit. Hier scheine eine Quantentheorie der Gravitation das angemessenere Beschreibungswerkzeug zu sein (G 82). Aber dagegen steht: "Das herkömmliche "Quantisierungskonzept", mit dessen Hilfe die Elementarteilchenphysiker die Quantenversion von Kräften formulieren, scheitert ... kläglich, wendet man es auf die Gravitation an. Im Rahmen der Quantentheorie führt die Beschreibung bestimmter Teilchenreaktionen im allgemeinen zunächst auf unphysikalische unendliche Werte. Bei den anderen drei Grundkräften lässt sich die Theorie so umdefinieren, dass die Unendlichkeiten verschwinden. Bei der Gravitation würde die entsprechende Umdefinition das Modell jeder Aussagekraft berauben ..." (G 81). Wahrscheinlich bräuchte man dann keine gekrümmte Raumzeit mehr!

Insgesamt haben Autoren, die sich eine Vereinigung der Theorien über alle vier Grundkräfte (im Bereich der Atomkerne die starke und die schwache Wechselwirkung, sowie die elektromagnetische und die gravitative Wechselwirkung) zum Ziel gesetzt haben, einen ersten Weg aus den Verlegenheiten der "unendlichen Singularitäten" gefunden. Damit die bisher diskutierten Unendlichkeiten in einer solchen Gesamttheorie nicht mehr vorkommen, haben sie sich endlich große, wenn auch noch so winzige "Strings" ausgedacht. Da die Strings ausgedehnt sind, finden die Teilchenreaktionen nicht an einem einzigen ausdehnungslosen Punkt der Raumzeit statt. Das Reaktionsgebiet ist vielmehr wenigstens über einen Bereich von der Größe der Strings "ausgeschmiert" (Alcubierre, G 82). Auch im Potsdamer Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) suchen die Forscher in der Abteilung "Quantengravitation und vereinheitlichte Theorien" nach der Weltformel, also nach einer Zusammenfassung der obengenannten grundlegenden Theorien der Physik, die schon zu den verschiedenen Superstring-Theorien geführt hat. Aber deren verschiedene mathematische Versionen scheinen noch nicht ganz überzeugend zu sein. Es ist auch zweifelhaft, ob durch ein immer abgehobeneres Weiterrechnen mit immer mehr "eingerollten Dimensionen" dieses Ziel erreicht werden kann. Könnte dies daran liegen, dass erst einige der Grundvoraussetzungen neu überprüft werden müssten, sogar erst in einem Teilbereich, z.B. im Bereich der Gravitationstheorie? Die von mir referierten Beiträge verschiedener Autoren und auch eigene Überlegungen sollen dazu weiterhelfen.