Inhaltsverzeichnis
Beginnen wir den folgenden Gedankengang mit dem Aufweis einiger einfacher Grundvoraussetzungen: Bei der Gravitation spielen neben der Nähe (bzw. Entfernung) zwischen den daran beteiligten Körpern insbesondere deren jeweilige Massen eine entscheidende Rolle. Wir haben dies schon in unserer Phänomenologie der Schwerkraft (3.1.3.) angesprochen, als in den Beispielen noch die uns vertrauteste Art der Schwerkraft, die sogenannte Erdanziehung, im Vordergrund stand. Andere gravitative Phänomene wurden erst sekundär mit der Erdanziehung vergleichbar, erst auf einem viel höheren Abstraktionsniveau. Das lag daran, dass die Gravitation der Sonne in ihrer Auswirkung auf die Erde und die anderen Planeten, und ebenso die Gravitation der Erde in ihrer Auswirkung auf den Mond, so perfekt durch die Zentrifugalkräfte der in elliptoiden Bahnen um ihr Zentralgestirn kreisenden Satelliten kompensiert sind, dass es den Astronomen in früheren Zeiten schwer fiel, die beobachtbaren Bewegungen als auch von der Schwerkraft mitbestimmt zu verstehen. Aber auch bei Zentrifugalkräften ist die Masse des kreisförmig bewegten Körpers ein entscheidender Faktor, was man merken kann, wenn man erst einen Tennisball (im Tragnetz) und danach die Stahlkugel des Hammerwerfers um sich kreisen lässt: die schwere Kugel, wenn sie erst einmal in Kreisbewegung gebracht worden ist, übt eine ungleich größere Kraft auf die das Seil haltende Hand und den sich drehenden Körper des Menschen aus als der leichte Tennisball, eben weil die Zentrifugalkraft von der Masse abhängt.
Diese Beobachtungen führen uns am Anfang unserer eigenen Überlegungen von der Unterscheidung zwischen Zentrifugalkraft und Schwerkraft zur Unterscheidung zwischen "träger" und "schwerer" Masse. Ich setze beide Adjektive in Anführungszeichen, um schon hier anzudeuten, dass eine Masse (jede Masse!) keineswegs von sich aus "träge" und auch nicht immer "schwer" ist, sondern dass Trägheit und Schwere eines Körpers von Bedingungen abhängen, unter denen ihre Masse, ein und dieselbe, allerdings die entscheidende ist. Und diese Masse kann je nach physikalischer Gegebenheit oder Versuchsanordnung als "Trägheit" oder als "Schwere" in Erscheinung treten und gemessen werden und dann sogar, wie wir noch erfahren werden, dabei unterschiedliche Werte annehmen.
Da in den Theorien über diese Phänomene schon durch die Wortwahl ("Trägheit", "Anziehung") einige Verwirrung aufgekommen ist, will ich zum Einstieg in die Problematik zunächst ein Gedankenexperiment anbieten, um darauf aufbauend dann eine Theorie der "Trägheit" zu formulieren, von der die uns eigentlich interessierende Theorie der Gravitation dann deutlicher abgehoben werden kann. Das Gedankenexperiment: Für uns immerhin vorstellbar, wenn auch prinzipiell nicht empirisch vorfindbar, ist ein einzelnes und zugleich einziges, nämlich allein im materie- und kräftefreien "Raum" befindliches Materieteilchen. Es hat in diesem Falle weder Position noch Geschwindigkeit, jedenfalls solange nicht, als in seiner Nähe (genauer: in Interaktion mit ihm) kein weiterer Körper ist, auf den seine eigene Position oder Bewegung bezogen werden kann, und der selber auch erst dadurch als in Position oder Bewegung befindlich gedacht werden kann. Denn Position und Bewegung im Raum sind relationale Begriffe; sie setzen mindestens zwei oder besser vier Körper voraus, die in Position oder Bewegung aufeinander bezogen werden können.
Ein einzelner Körper kann auch nicht auf den leeren Raum bezogen werden, weil dieser, ohne den in ihm befindlichen Körper, selber als ein Nichts weder Position noch Bewegung, weder Stillstand noch Geschwindigkeit "hat". Raum "ist" nicht, er ist nicht "existent" als "Etwas". Ohne materielle Körper, die ("in ihm") in Position oder Bewegung aufeinander bezogen sind, ist er gar nicht denkbar. Dagegen ist es sinnvoll zu sagen, dass sich Räumlichkeit in dem Maße konstituiert, in dem mehrere Körper sich relativ zueinander bewegen, aber dies eben nur dann und dort, wann und wo sich gerade Korpuskeln oder Körper befinden und einander begegnen und aufeinander einwirken. Dann haben sie sich zuvor einander genähert und danach wieder voneinander entfernt, ggf. zu anderen Körpern hin, und in der Momentaufnahme ihrer Bewegungen kann dann auch von ihrer relativen Position zueinander gesprochen werden.
Aber selbst wenn sich im kräftefreien Raum (der später in unserer Analyse als leptonenfrei und insbesondere gravionenfrei bezeichnet wird) mehrere schwerefähige (baryonische) Korpuskeln befinden, konstituiert sich damit nicht notwendigerweise schon faktische Räumlichkeit. Man könnte es so sagen, dass ein im kräftefreien Raum sich befindender und sich bewegender Körper von den Bewegungen anderer Körper "keine Notiz nimmt", solange diese ihn nicht direkt berühren und ihn etwa aus seiner Position oder Bahn bringen. So ist seine eigene "Position" oder "Bewegung" im kräftefreien Vakuum, so hoch seine Geschwindigkeit relativ zu anderen Körpern auch sein mag, ohne Berührung mit ihnen faktisch einer eigenen "Nicht-Bewegung" gleichzusetzen, soweit nämlich kein direkter oder durch vermittelnde (kräfteübertragende) Korpuskeln bewirkter Bezug zu anderen Körpern und deren Position oder Bewegung zustande gekommen ist und weiter besteht. Im totalen Vakuum ist die Geschwindigkeit einer einzelnen Korpuskel somit kaum zu konstatieren, geschweige denn messend festzustellen.
Weil ein totales (materie- und kräftefreies) Vakuum, das eben auch frei von Leptonen wie Photonen, Elektronen und auch frei von den noch einzuführenden Gravionen ist, den in ihm bewegten Objekten nicht den geringsten Widerstand leistet, hängt in ihm die Relativgeschwindigkeit eines Körpers gegenüber anderen Körpern zunächst nur von der Ausgangsgeschwindigkeit der beteiligten Körper ab. Bei emittierten Korpuskeln ist diese Anfangsgeschwindigkeit mit ihrem Start vom emittierenden Körper weg und relativ zu diesem vorgegeben und zunächst unveränderlich. Im völlig leeren und kräftefreien Raum kann es daher nur eine höchste Startgeschwindigkeit von Korpuskeln geben, die nach ihrer Emission beibehalten wird, aber keine etwa "raumabhängige" prinzipielle Höchstgeschwindigkeit. Das totale Vakuum "erlaubt" alle Geschwindigkeiten, die in solchen Emissionsprozessen faktisch zustande kommen. Diese können sehr verschieden sein, ggf. auch höher als die Lichtgeschwindigkeit.
Im totalen Vakuum kann also, bedingt durch dessen Widerstandslosigkeit, ein Körper, auf den keine (neuen) Kräfte einwirken, sowohl seinen Stillstand auf einer Position als auch seine Bewegung, mit welcher Geschwindigkeit und Richtung auch immer, ständig und auf Dauer beibehalten. Insofern und nur in diesem Sinne verhält sich dieser Körper "träge" selbst in der faktisch höchsten Eigengeschwindigkeit! So würde sich jedweder Körper (von der einzelnen Korpuskel bis zur später zu diskutierenden Massenagglomeration) im totalen Vakuum in seiner gleichbleibenden Geschwindigkeit und Richtung weiterbewegen oder auch weiterhin in seiner bisherigen Position verbleiben, so lange nämlich keine anderen oder weiteren Korpuskeln, "Kräfte" oder Körper auf ihn einwirken. Das ominöse "Trägheitsprinzip" ist die Konsequenz daraus. Es bezieht sich im Grunde auf das Verhalten von Körpern im kräftefreien (insbesondere gravitativ neutralen) Raum. So ist nicht die "Trägheit", sondern die Positions- und Bewegungsänderung das eigentlich Erklärungsbedürftige und im Prinzip Erklärungsfähige! Und der Inbegriff des „Widerstands“ eines Körpers gegen solche Änderungen seines Ruhe- oder Bewegungszustandes, das Maß seiner Resistenz gegen Zustandsänderungen, ist die "träge Masse".
An dieser Stelle der Argumentation ist es vielleicht nützlich, sich etwas eingehender mit Sinn und Herkunft des Begriffs "Trägheit" zu befassen. Er ist eine Übersetzung des lateinischen Wortes "inertia" (= Ungeschicklichkeit; Untätigkeit, Trägheit), abgeleitet vom Adjektiv "iners" (= ungeschickt, einfältig; untätig; nachklassisch: müßig; feige; schüchtern, scheu; fade; erschlaffend!). Auch das deutsche Wort "Trägheit" ist für das in unserem physikalischen Kontext Gemeinte wenig passend, wenn man bedenkt, dass laut Synonym-Wörterbuch des Duden das Adjektiv "träge" sinnverwandt ist mit "faul, bequem, phlegmatisch", auch mit "untätig" und "unbeteiligt". In der Psychologie wird Trägheit als Passivität verstanden, als eine aktivitätseinschränkende Verminderung des Antriebs, der Motivation und der Anpassung an Umweltreize, insofern also als Rigidität. Die Trägheit kann krankhaft gesteigert sein bis zur Apathie und Lethargie. Diese fast durchgängig abfälligen Kennzeichnungen haben mit dem Beibehalten einer Anfangs-Position, -Geschwindigkeit oder -Richtung eines Körpers nun wirklich nichts zu tun.
Dem Physiker geht es in seinem "Trägheits"begriff vielmehr um den Widerstand (die Resistenz) eines Massenpunktes oder Körpers gegen äußere Einwirkungen auf dessen Ruhe- oder Bewegungs-Zustand oder um das zögernde Reagieren darauf, also genau genommen um die Schwerveränderbarkeit, das Beharrungsvermögen oder die Beständigkeit bis maximal zum Gleichbleiben (zur Konstanz) von Position oder Bewegung (Geschwindigkeit und Richtung) eines Körpers, und zwar abhängig von dessen Masse. Die "Trägheit" eines Körpers entspricht seiner Masse. Man könnte also kürzer von einer massenabhängigen Einwirkungsresistenz oder Zustandsbeständigkeit sprechen. Das Wort "Resistenz" wiederum ist abgeleitet von lat. resistere "stehen bleiben, widerstehen", und über das Partizip Präsens "resistens" weitergeführt zum Fremdwort "resistent", das heißt: widerstandsfähig gegen äußere Einwirkungen. So viel zur Begriffsklärung.
Die Schnelligkeit einer Bewegung wird physikalisch als Geschwindigkeit gemessen und mit dem Formelzeichen v (lat. velocitas) gekennzeichnet. Im einfachsten Fall einer geradlinig gleichförmigen (unbeschleunigten) Bewegung eines Massenpunktes oder Körpers ist die Geschwindigkeit definiert als Quotient aus der von dem Körper zurückgelegten Wegstrecke und der dazu benötigten Zeitspanne (v = ds/dt). Dieser Fall ist allerdings nur im kräftefreien und von weiteren Massen freien Raum gegeben, wo weder die Geschwindigkeit noch die Richtung der Bewegung des Körpers sich ändern. Unter anderen Bedingungen können Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung Änderungen erfahren, die mathematisch als Änderungen eines Vektors darstellbar sind.
Wenn weiter oben vom Bewegungszustand die Rede war, so ist darunter bei einer Punktmasse deren linearer Impuls (p) zu verstehen. Diese Bewegungsgröße ist definiert als Produkt aus Masse und Geschwindigkeit (p = m * v) eines Teilchens oder Körpers, sodass das Trägheitsprinzip auch als Impulserhaltungssatz formuliert werden kann. Zugleich ist damit das "Inertialsystem" als Bezugssystem definiert, in dem bei Abwesenheit äußerer Kräfte der Impuls eines Körpers erhalten bleibt. In einem solchen Inertialsystem ist die zeitliche Änderung des Impulses gleich der Kraft F (F = Δp/Δt), wie Newton es in seinem 2. Axiom ausgesagt hat. Die Kraft ist auf diese Weise mit dem Begriff der (trägen) Masse verkoppelt, und diese Festsetzungen können insgesamt als Grundlagen der klassischen Mechanik gelten.
Ein Inertialsystem ist zunächst einmal ein physikalisches Bezugssystem, nämlich ein mit Hilfe realer physikalischer "Normale" (starre Maßstäbe, Lichtstrahlen, Uhren) festgelegtes Koordinatensystem, das der Messung oder mathematischen Beschreibung eines physikalischen Sachverhalts zugrundegelegt wurde. In einfachster Form ist es ein räumliches Koordinatensystem zur Angabe der Position eines Massenpunktes oder der räumlichen Erstreckung eines Körpers. Diese Angaben werden durch Richtungs- und Abstandsmessungen mit Hilfe von "starren" (in ihrer Länge unveränderlichen) Maßstäben gewonnen. Zu räumlich-zeitlichen Bezugssystemen, in denen auch Bewegungsvorgänge gemessen oder beschrieben werden können, gehören außerdem Uhren, die mit dem jeweiligen räumlichen Koordinatensystem fest verbunden sind. Zeitvergleiche über größere Entfernungen können mit Lichtstrahlen erfolgen.
Als "Inertialsystem" wird also ein Bezugssystem bezeichnet, in dem ein kräftefreier Körper sich geradlinig und gleichförmig bewegt und in dem somit die Newtonschen Axiome gelten, insbesondere das Trägheitsgesetz. Ein auf ein solches Inertialsystem bezogenes weiteres Bezugssystem, das sich relativ zu diesem Inertialsystem in einer nach Betrag und Richtung ebenfalls konstanten Geschwindigkeit bewegt, ist ebenfalls ein Inertialsystem, und keines von beiden ist vor dem anderen ausgezeichnet. Der Übergang zwischen gleichförmig gegeneinander sich bewegenden Inertialsystemen erfolgt in der klassischen Mechanik durch Galilei-Transformationen, wobei die Gesetze der physikalischen Theorien unverändert bleiben. Beim Übergang von einem Bezugssystem zu einem anderen müssen daher die Messergebnisse sowie die den physikalischen Gegebenheiten zugrundeliegenden Gesetze mit derselben Koordinaten-Transformation transformiert werden, die das eine Koordinatensystem in das andere überführt (= kovariante Formulierung des Geschehens und der dieses beschreibenden Theorie).