3.3.2. Zur Geschichte des physikalischen Begriffs der "Trägheit"

 

3.3.2.1 Atome bewegen sich im leeren Raum

Auf der Grundlage des Gedankenexperiments von der "einsamen Korpuskel im total leeren Raum" habe ich im letzten Abschnitt das Problem der "trägen Masse" diskutiert, dabei eine Theorie des Widerstands gegen Zustandsveränderungen entwickelt und mit heute vertretenen Vorstellungen über "Trägheit" ergänzt. Dieser Ansatz hat viele Vorläufer in Theorien, die seit Jahrhunderten oder sogar seit mehr als 2000 Jahren von Philosophen und Kosmologen, von Astronomen und Physikern vorgetragen worden sind. Es ist daher vielleicht nützlich, nunmehr der rekonstruierbaren Geschichte des physikalischen Begriffs der "Trägheit" bzw. einiger Ansichten über die damit gemeinten Phänomene nachzugehen. Ich will aus diesem sicher umfangreichen Material nur eine begrenzte Anzahl von theoretischen Ansätzen referieren, die mir zur Kenntnis gekommen sind.

Ich beginne diesen physikgeschichtlichen Exkurs mit einer eigenen Überlegung, in der ich vom praktischen Zerteilen von Nahrung und anderen teilbaren Objekten schließlich zur abstrakten Idee der Unteilbarkeit der allerkleinsten Teilchen und zur Vorstellung eines leeren Raumes komme, in dem sich solche Teilchen ungehindert bewegen. Menschen hatten seit jeher die Fähigkeit, etwas Ganzes zu zerkleinern und zwar ganz Verschiedenes: Früchte, Nüsse, nahrhafte Wurzeln, Knollen und saftige junge Triebe, auch das Fleisch von Beutetieren. Sie brauchten dazu nur, dem Gestilltwerden an der Brust der Mutter entwachsen, ihre inzwischen beißfähigen Zähne zu benutzen, mit denen sie ein Stückchen von der Nahrung abschneiden, es zerkauen und zermahlen konnten zu einem vom Speichel geschmeidig gemachten Brei, der dann heruntergeschluckt werden konnte. Magen und Darm taten dann ihr Übriges, und was von all den so verschiedenen Nahrungsmitteln zurückblieb und am Ende herauskam, war ein ziemlich homogener brauner Brei, der seine je spezifischen Ausgangsbestandteile nur noch ausnahmsweise erkennen ließ, etwa einen verschluckten Kirschkern. Zum Abreißen und Pflücken von Nahrung konnten Menschen auch ihre Hände benutzen, und sie konnten zusätzlich die Schärfe der Fingernägel und Schneidezähne durch die noch schärferen Kanten von Steinen ergänzen, z.B. um das Fleisch vom Knochen und von den Sehnen zu trennen, oder aber um Rundhölzer für Lanzen und Speere passend abzuschneiden und zuzuspitzen.

Nach solcher Materialbearbeitung blieb neben der nutzbaren oder genießbaren Hauptsache mancher Abfall übrig, etwa Reststücke vom Holz, Splitter und Späne, auch Nahrungsreste wie harte Stiele, Schalen, Kerne, oder Knochen, Haut, Sehnen und Gedärme, also insgesamt Müll, der ja keine Erfindung unserer heutigen Wegwerfgesellschaft ist, sondern sich schon immer um menschliche Rastplätze und Wohnstätten herum anhäufte. Es muss dort ziemlich gestunken haben, sehr attraktiv für Wölfe und Schakale, Geier und Krähen, Ratten und Schmeißfliegen und andere Aasfresser. Fachgerechte Mülltrennung und Entsorgung ist eine sehr späte zivilisatorische Errungenschaft.

Was Menschen selber tun konnten, nämlich etwas bis zur Unkenntlichkeit zu zerkleinern, das sahen sie auch in ihrer Umwelt spontan geschehen: Alte Bäume wurden morsch und zerfielen, Blätter verwelkten und vermoderten zum Mulch des Waldbodens, Tierleichen vergammelten und verfaulten, und alles Lebendige konnte schließlich verschimmeln und verrotten. Menschen konnten auch sehen, wie sich unter Felswänden immer mehr Felsbrocken, Geröll und Steinschutt ansammelten, und es war für sie erfahrbar, dass Steine in wilden Bergbächen und Flüssen eher rund waren, weil sie offenbar vom strömenden Wasser aneinander rund geschliffen wurden, bis zu runden Kieseln, bis zu weichem Sand, der dann vom Wasser an Stränden angehäuft und vom Wind in Dünen zusammengeweht wurde. Schließlich konnten Jäger und Sammler, die bis in nördliche oder alpine Bereiche vorgedrungen waren, auch das Eis kennen lernen, das bei Tauwetter dünner und zerbrechlicher wurde, und vor den Augen der Menschen zu Wasserpfützen zerschmelzen und in Bächen wegfließen konnte. Wasser konnte sogar in der Hitze verdunsten, im Wind wegtrocknen, es konnte beim Kochen verdampfen und insgesamt konnte es als Wolke und Nebel, Tau und Regen, Schneeflocken und Hagel von neuem in einen Kreislauf eintreten.

Menschen konnten somit die Erfahrung machen, dass ein zuvor noch gestalthaft als Ganzes wahrgenommenes Objekt anscheinend unbegrenzt teilbar war, und auch dass das Zerteilte, sei es nun Holzstaub oder Sand oder Mehl oder Wasser, immer homogener wurde. Dem Holzstaub sah man nicht mehr an, von welchem besonderen und noch lebendigen Baum er herrührte, die Sandkörner ließen ihre je individuelle Herkunft, etwa ursprünglich aus den verschiedensten Gesteinen, nicht mehr erkennen. Das Zerteilte verliert mit jedem Teilungsschritt stärker seine anfängliche Individualität, und wenn es schließlich fein zermahlen ist, kann es sich als Steinstaub mit dem Holzstaub und dem Mehl der Getreidekörner und dem Wasser zu einem undefinierbaren schmutzigen Brei verbinden, zum Matsch, wobei dieser neue Name alles in einem zusammenfasst und die Frage nach der Herkunft seiner Bestandteile kaum noch aufkommen lässt.

Nun kann man versuchen, sich das Immerweiterteilen der Dinge bis zum letzten Ende vorzustellen. Ist alles unbegrenzt teilbar? Könnte etwas noch flüssiger als das klare Wasser sein, könnte die wehende Luft noch durchsichtiger sein, könnte etwas noch reiner sein als die in ihr aufsteigende Flamme des Feuers? Irgendwann musste doch eine Grenze erreicht sein, an der dann das Weiter(sich)teilenkönnen aufhört, wo dann das vielfach Zerteilte noch homogener ist als der feinste Sandstaub, das klare Wasser, die ungreifbare, aber spürbare Luft und die reinste Flamme. Jedenfalls war es denkbar, dass es nach allem Teilen schließlich und letztlich unteilbare kleinste Teilchen, die Atome, gäbe.

Aber was war zwischen diesen Teilchen? Beim ersten Teilen war es noch ein bloßer Riß, ein sich öffnender Spalt (nach Christian Morgensterns Gedicht über den Lattenzaun: " ein Zwischenraum, hindurch zu schaun"), und mit jeder Teilung vermehrte und erweiterte sich auch das "Dazwischen", zwischen den Staubkörnchen war schließlich nur noch Luft, und zwischen den Luftteilchen? .... der leere Raum. In diesem Raum konnten sich kleine und kleinste Teilchen bewegen: die schweren nach unten fallen, die leichteren vom Wasser weggeschwemmt, die ganz leichten von der Luft weggeweht werden. Und sind nicht auch die unzähligen Sterne der Milchstraße, auch die Planeten, die Sonne und der Mond solche Teile, die sich im leeren (Welt-)Raum bewegen und die Erde umkreisen? Aber auch sie könnten noch teilbar sein bis schließlich zur letzten Teilung in dann letztlich unteilbare Atome. Das Ergebnis des Immerweiterzerteilens von etwas, was vorher groß, schwer und ganz war, in immer mehr und immer kleinere Teile, ließ sich in eine Kurzformel bringen: Die Atome bewegen sich im leeren Raum.

Solchen Gedanken mag schon der griechische Philosoph Leukipp nachgegangen sein, und so etwa konnte er zu der Theorie gekommen sein, die man später als "Atomismus" bezeichnete. Leukipp lebte in der Mitte des 5. Jh. v.Chr., stammte wahrscheinlich aus Milet an der kleinasiatischen Westküste und wirkte später in der nordgriechischen Stadt Abdera. In Abdera wurde sein Schüler Demokrit geboren, etwa um 460 v.Chr., und dessen Tod wird ungefähr zwischen 380 und 370 v.Chr. datiert. Leukipps Theorie, die dann von Demokrit weiter ausgebaut wurde, kann auf Ansätze zurückgeführt werden, die schon bei den Eleaten erkennbar sind. So unterschied Xenophanes zwischen Erde und Wasser, und Parmenides zwischen dem Seienden und dem Nichtseienden. Im Folgenden sollen die Auffassungen von Leukipp und Demokrit eher zusammenfassend referiert werden.

Danach besteht die Materie (d.h. alles, was existiert = alles Seiende) aus einzelnen, winzig kleinen Teilchen, die für das menschliche Auge unsichtbar sind. Sie sind unvergänglich und unteilbar und werden deshalb als Atome bezeichnet. Sie unterscheiden sich untereinander hinsichtlich ihrer Größe und Form, bleiben aber in ihren jeweiligen Eigenschaften stets unveränderlich. Die Atome befinden sich im leeren Raum, wo jedes Atom seinen Platz einnimmt, und sie können sich in dieser Leere mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, sogar sehr schnell, bewegen. Dabei können die Atome gegeneinander stoßen, aneinander haften bleiben und sich so zu neuen Gebilden zusammenfinden. Durch verschiedene Kombinationen unterschiedlicher Atome ergibt sich eine Vielfalt von Gebilden der Welt bis zum Menschen hin. Aus einer Unzahl von Veränderungen und Abläufen entwickeln sich die unterschiedlichsten Organisationsformen - so auch schließlich die menschliche Gesellschaft.

Was den leeren Raum (to kenon) selber betrifft, der sich zwischen den Atomen und außerhalb von ihnen ausbreitet, so wurde er im Unterschied zu den "seienden" Atomen als "nicht seiend", also als Nichts verstanden. In gewisser Weise existiert er aber dennoch als das, worin sich die Atome bewegen, also in einer sozusagen anderen Existenzform. Heute können wir sagen: Wir können uns Bewegungen der Atome nur denken, wenn wir dabei einen leeren Raum voraussetzen und dieses so Gedachte auch so nennen. Die Leere ist somit etwas, das sich durch Bewegungen der Atome erst konstituiert, und in dem dann die Bewegungen geschehen.

Diese Zusammenfassung, die ich aus der Sekundärliteratur kompiliert habe, ist in solcher Ausführlichkeit und Geschlossenheit weder bei Leukipp (von dessen Werk ohnehin wenig überliefert ist) noch bei seinem Schüler Demokrit vorzufinden. Aber das ist diesen Philosophen nicht als Mangel anzurechnen. Wir können nämlich viele der veranschaulichenden Details weglassen, und dann bleibt immer noch die geniale und grundlegende Aussage der beiden vorsokratischen Philosophen, die in ihrem zentralen Inhalt bis in unsere Zeit gültig geblieben ist: Unteilbare Grundsubstanzen bewegen sich im leeren Raum. Wir finden diese Aussage in solcher Kürze und Prägnanz schon bei Leukipp (wiedergegeben von Aristoteles, Gen. corr. A 8, 325a, 23f., zitiert nach der Übersetzung von Jaap Mansfeld in: Die Vorsokratiker II, Reclam, Stuttgart, 1986, S. 247): "Diese Massen (der Atome) bewegen sich im Leeren", denn "Leukipp nahm an, es sei keine Bewegung möglich ohne das Leere ... das Nichtseiende". Ganz ähnlich formulierte Demokrit (nach Hippolytos, Haer. I, 13, 2-4, a.a.O. S. 291); dass "die seienden Dinge sich ewig im Leeren bewegten", und nach Sextus Empiricus (Adv. Math. VII, 135 f., a.a.O. S. 319) schrieb er, in Wirklichkeit gäbe es nur Atome und Leere. So ist wohl deutlich geworden, dass nicht schon die bloße Unteilbarkeit der Atome, sondern erst das Gesamtbild, dass nämlich die Atome sich im leeren Raum bewegen, die Genialität und bis in unserer Zeit hin die Zukunftsträchtigkeit des von Leukipp und Demokrit begründeten Atomismus ausmacht.

 

3.3.2.2. Die Erhaltung des Anfangsimpulses

Ich setze den physikgeschichtlichen Exkurs fort mit dem griechischen philosophischen Schriftsteller Plutarch (46 - 92 n.Chr.), der in seinem Werk "Das Gesicht des Mondes" u.a. unter Bezug auf Aristarch von Samos (310 - 230 v.Chr.) eine fiktive Unterhaltung gebildeter Laien wiedergibt (eingeleitet, übersetzt und erläutert von Herwig Görgemanns, Zürich 1968): "... Ihr lasst ja die Erde auch frei in der Luft schweben, die doch viel größer ist als der Mond ... Dabei hat der Mond einen Grund, der ihn vom Fallen abhält: seine Bewegung selbst und seinen sausenden Umschwung, so wie ein Stein in einer Schleuder durch das Schwingen im Kreise am Fallen gehindert wird. Denn jeden Gegenstand beherrscht die natürliche Bewegung, solange sie von nichts anderem abgelenkt wird. Die Schwere setzt den Mond deshalb nicht in (H. Sch.: zentripetale) Bewegung, weil ihre Kraft durch den Umschwung ausgeschaltet wird" (zitiert nach K. Simonyi, S. 88). Simonyi weist übrigens darauf hin, dass Newton offenbar diese Stelle im Werk Plutarchs gelesen und gekannt hatte (S. 86).

Einen weiteren Ansatz referiert Simonyi (S. 150/151) aus dem Werk von Jean Buridan (1295 - 1358), der im Jahre 1327 Rektor an der Pariser Universität war: "In seinem Buch Questiones octavi libri physicorum greift er (Buridan) ein bereits in der Antike ... diskutiertes Problem ... auf, nämlich die Frage, was die Bewegung eines abgeworfenen Körpers fortdauern lässt. Nach Buridan wird einem Körper im Moment des Abwurfs ein bestimmter Impetus erteilt, der ihn dann zu der weiteren Bewegung befähigt. Aus der Argumentation Buridans lässt sich sogar - wenn auch nicht klar und eindeutig - ablesen, dass der Impetus proportional zur Masse und zur Geschwindigkeit angesetzt wird. Damit läßt sich aber der Impetus in einen gewissen Zusammenhang mit unserem heutigen Impulsbegriff bringen". Nach Simonyi (S. 151) hat Buridan den "Impetus" (den Bewegungsantrieb eines Körpers) "für etwas Bleibendes, nicht von allein Vergehendes angesehen", zu dessen Verringerung bis zur "Vernichtung" ein besonderer Widerstand benötigt wird. So verlieren Körper schließlich ihren Impetus, wenn sie bei ihrer Bewegung ständig Widerstände überwinden müssen. Buridan hat seinen Ansatz auch auf die Himmelsmechanik übertragen und ausgesagt, dass es zur Bewegung der Himmelssphären ausreicht, wenn wegen des Fehlens eines jeglichen Bewegungswiderstandes des leeren Raumes der bei der Schöpfung erteilte Anfangsimpetus ewig erhalten bleibt (ein weiterer Beleg für frühe Spekulationen über das Phänomen der "Trägheit"). Simonyi meint in Buridans Gedanken sogar "den Keim des Trägheitsgesetzes" sehen zu können (S. 151): der einmal erworbene Impetus ist die Ursache für die weitere Bewegung des Körpers, kann als dessen Bewegungs"antrieb" verstanden werden. Das geht aber sicher zu weit, denn es geht eben nicht um die Einwirkung neuer Kräfte wie beim "Antrieb" eines Fahrzeugs, sondern eher um dessen Weiterrollen ("im Leerlauf") oder Weiterfliegen (z.B. über das Brückengeländer!). Simonyi (S. 153) fasst zusammen: "(So) wurde es möglich, die Bewegung der Himmelskörper der Erhaltung der Anfangsimpulse zuzuschreiben; diese Aussage hat den Weg zu einer genaueren Formulierung des Inertialgesetzes geebnet".

Der italienische Physiker und Philosoph Galileo Galilei (1564 - 1642) ist mit seinen Untersuchungen der Bewegung von Körpern auf der schiefen Ebene schon sehr nahe an die Trägheitsgesetze der Newtonschen Mechanik herangekommen, nach denen die Kraft nicht zur Aufrechterhaltung eines Bewegungszustandes benötigt wird, sondern nur zu dessen Veränderung (Simonyi S. 209).

Isaac Beeckman (1588 - 1637), ein niederländischer Physiker und Naturphilosoph, Schüler von S. Stevin und Wegbereiter der klassischen Physik, notierte in seinem Tagebuch (nach 1618) die Annahme, dass ein Körper die einmal erworbene Geschwindigkeit beibehält. Er formulierte als erster ein Trägheitsprinzip für Translations- und Rotationsbewegungen. Auch auf die Schwerkraft bezogen gilt, dass ein Körper (ich ergänze: wenn er im Vakuum fällt) die einmal durch Gravitation erworbene Geschwindigkeit nicht wieder verliert (Simonyi S. 211).

Die neue, nacharistotelische Dynamik sagt demnach aus, dass eine Geschwindigkeitsänderung von der Einwirkung einer Kraft verursacht wird. Diese Kraft kann auch eine andere als die Schwerkraft sein (auf diese komme ich im nächsten Abschnitt wieder zurück). Denn wenn in einem Experiment die Schwerkraft an ihrer Auswirkung gehindert wird, wenn wir nämlich eine optimal glatte runde Kugel auf eine völlig glatte, waagerecht positionierte Platte legen, dann spielt die Gravitationskraft für die dann noch möglichen Bewegungen der Kugel keine Rolle mehr. Um diese Kugel auf der Platte in eine geradlinige Bewegung zu versetzen, wird eine Kraft benötigt, die an der "trägen" Masse des Körpers ansetzt und deren Widerstand zu überwinden hat. Ein Briefpartner Galileis, Giovanni Battista Baliani (1582 - 1666), charakterisierte diesen Aspekt der Masse als "passum" oder träge Masse, die in heutiger Formulierung den Widerstand des Körpers gegen eine Änderung seines Bewegungszustandes begründet (Simonyi, S. 212).

René Descartes (1596 - 1650) war ein bedeutender französischer Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler. Seine physikalischen Fragestellungen wurden wesentlich angeregt durch die Begegnung mit Isaac Beeckman (1618/19). Das ist klar erkennbar an den kartesianischen Bewegungsgesetzen, die eigentlich Trägheitsprinzipien sind:

"1. Ein Körper bleibt so lange in Ruhe, so lange keinerlei Wirkung auf ihn ausgeübt wird; ein sich bewegender Körper setzt jedoch seine Bewegung ... mit unveränderter Geschwindigkeit (bis zu dem Zeitpunkt) fort, bis er mit irgendetwas zusammentrifft, das die Bewegung ändert.
2. Jeder sich bewegende Körper ist bestrebt, seine Bewegung geradlinig fortzusetzen" (zitiert nach Simonyi, S. 218).

Ähnlich argumentiert der niederländische Mathematiker, Astronom und Physiker Christian Huygens (1629 - 1695) in seinem Horologium oscillatorium: "1. Ein Körper, der sich selbst überlassen ist, bewegt sich gleichförmig auf einer geraden Bahn". Simonyi (S. 249) weist darauf hin, dass hier (in einer von Huygens vorgelegten mathematischen Ableitung von Pendelgesetzen) "in der Geschichte der Physik zum ersten Mal das Trägheitsmoment sowie dessen mathematische Darstellung vorkommen"; Huygens habe allerdings dieser Größe noch keinen eigenen Namen gegeben. Auch bei der Aufstellung der Stoßgesetze sei Huygens von einer auf "Trägheit" bezogenen Grundannahme ausgegangen (Simonyi, S. 249): "Jeder beliebige sich bewegende Körper ist bestrebt, seine Bewegung geradlinig und mit konstanter Geschwindigkeit so lange beizubehalten, bis er auf irgendein Hindernis stößt" (H. Sch.: bis er vom Hindernis absorbiert, zurückgeworfen oder in eine andere Richtung umgelenkt wird).

Isaac Newton (1643 - 1727) führte solche Gedankengänge weiter in seinen Axiomen, insbesondere im Trägheitsprinzip: Jeder Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen geraden Bewegung, wenn er nicht durch eine Kraft gezwungen wird, diesen Zustand zu ändern. Das Aktionsprinzip sagt aus: Die auf einen Körper wirkende Kraft F ist gleich dem Produkt aus seiner Masse m und seiner Beschleunigung a, also F = m * a. Diese Axiome definieren implizit den Begriff des Inertialsystems sowie die Vorstellung von einem absoluten Raum und einer absoluten Zeit. Unmittelbar aus dem Aktionsprinzip abgeleitet sind die Newtonschen Bewegungsgleichungen der klassischen Mechanik. Sie rechnen mit den Koordinaten und Impulsen der Körper im dreidimensionalen Raum.

In der "Kulturgeschichte der Physik" von K. Simonyi finde ich einen weiteren Ansatz zu diesem Problembereich in einem Beitrag über den französischen Mathematiker, Physiker und Philosophen Jules Henri Poincaré (1854 - 1912), der in einer Arbeit aus dem Jahre 1904 schreibt: " ... die Körper (widerstehen) mit immer größerer und größerer Trägheit den Wirkungen ... , die sie zu beschleunigen trachten; und diese Trägheit (H. Sch.: also nicht ihre Masse!) wird unendlich, wenn sich die Geschwindigkeit der Lichtgeschwindigkeit nähert ...Die Masse hat zwei Aspekte: gleichzeitig erscheint sie als Charakteristikum der Trägheit und als der Faktor, der in dem Newtonschen Gravitationsgesetz für die Anziehungskraft maßgebend ist" (zitiert nach Simonyi, S. 404).