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Nicht nur in den Religionen und ihren Theologien, sondern auch in den Wissenschaften gibt es ein sonderbares Trägheits- oder besser Beharrungs-Phänomen: Es betrifft vornehmlich Erklärungen, die mehr oder weniger weit vom Alltagswissen und vom bisher Selbstverständlichen abweichen und einen hohen Aufwand an Überzeugungsarbeit des "Lehrers" und an Fleiß, Lern- und Glaubensbereitschaft des "Schülers" erfordern, um vermittelt werden zu können. Das gilt etwa für fremd- und altsprachige Texte, mit längeren und komplizierteren Sätzen, eigenwilligen Ausdrucksweisen („Eigensprachen“) und Begrifflichkeiten, ungewohnten Sichtweisen. Insbesondere betrifft es Theorien, die in der Wissenschaftsgeschichte zu einem radikalen Bruch vom Rang eines Paradigmenwechsels führten (Th. S. Kuhn: "The Structure of Scientific Revolutions", 1962). Je fremder der neu zu rezipierende Stoff zunächst ist, um so größer ist der Widerstand, der überwunden werden muss, um ihn aufzunehmen, vor allem wenn es längst vertraute Alternativtheorien gibt, die man schon "intus" hat, die dann aber verworfen oder zumindest revidiert werden müssten. Nicht jeder macht sich die Mühe, sich das Neue und Fremde anzueignen, und nicht jedem gelingt es.
Wenn es aber dennoch geschafft wird, dann sitzt es um so fester, dann kann das neu Gewusste sogar den Charakter einer Glaubenswahrheit annehmen, kann hinfort mit allen Geisteskräften gegen Infragestellung verteidigt werden. Einerseits gegen ein noch Neueres, aber auch gegen manches Alte, das vielleicht gar nicht so verkehrt war. Im einzelnen Wissenschaftler kann sich auf diese Weise bis ins hohe Alter ein Wissen erhalten, auf das er in seiner Studienzeit aufmerksam geworden war, weil es damals als wissenschaftliche Mode aufgekommen war, das er aber anfangs nur mit großer geistiger Anstrengung aufnehmen konnte und schließlich auch, zumindest weitgehend, "verstanden" hatte und worin er dann fit war. Dann konnte er es auch anderen Menschen, seinen Schülern, erklären, und das war manchmal, trotz aller Richtigkeit der Theorie, von beiden Seiten her gesehen gar nicht so leicht. Aber in der Konfrontation mit noch neueren Theorien oder mit ganz alten, aus der Versenkung geholten, kommt es dann entweder zu deren brüsker Ablehnung, zur "Nichtbefassung" mit ihnen, oder aber zu Versuchen, wenigstens etwas an der eigenen bisherigen Sichtweise zu retten.
Solche "Vororientierungs-Rettungsversuche" betrafen in früheren Zeiten das noch religiös fundierte Gottesbild, das in Theologien und Philosophien die mannigfaltigsten Abwandlungen und Verkleidungen erfahren konnte: Wenn schon nicht mehr an den fordernden, zürnenden, strafenden oder verzeihenden Gott geglaubt werden konnte, weil er als anthropomorphisierende Phantasie enttarnt worden war, dann doch vielleicht noch an den "Schöpfer des Alls", "den letzten Grund allen Seins", "das Weltgesetz", "das was uns unbedingt angeht", "das Umgreifende", oder dann doch wieder ganz personal an einen Führer, einen Herrn der Heerscharen, dem man gehorchen konnte oder zu dem man wie ein Kleinkind zum Vater aufschauen konnte. Solche Gottesrettungsversuche sind noch in der heutigen Philosophie festzustellen.
Auch einigen Gravitationstheoretikern geht es bei der Gravitation wohl um etwas Grundsätzliches, fast schon Philosophisches oder gar Theologisches. Mir ist nämlich aufgefallen, dass in ihren Argumentationen gelegentlich Ausdrucksweisen verwendet werden, die den Respekt des "nichtigen" Menschen vor der Größe des All und der Komplexität der kosmischen Strukturen zum Ausdruck bringen, und die mir von Nikolaus von Kues ("docta ignorantia") und von anderen Denkern vertraut sind. Die Wortwahl lässt dann ein ehrfurchtsvolles "ignoramus ignorabimus" anklingen, eine Art physikalischen Agnostizismus, der sich darauf gefasst macht, dass hinter den noch so kleinen Partikeln schließlich doch noch etwas vielleicht Energetisches oder gar Geistiges auftauchen könnte, jedenfalls etwas, was für uns Menschen im direkten und im übertragenen Sinne nicht fassbar, also schließlich unbegreiflich ist. Ich selber mache es mir da etwas leichter und beantworte etwa die Frage, aus was wohl die kleinste Korpuskel besteht, ganz lapidar: die allerkleinste Korpuskel besteht aus sich selbst, nur aus sich selbst, und sie ist so unteilbar wie das "Atom" der Vorsokratiker. Insofern bin ich eher "Materialist", während ich die Stringtheoretiker eher in der Nähe zum philosophischen "Idealismus" sehe. Aber es geht mir doch zentral um die zu klärende Sache, und weniger um etwaige Hintergründe motivationaler Art.
Den "Gottes-Rettungsversuchen" der Theologen, Philosophen und Kosmologen entsprechend gibt es in der Physik Theorie-Rettungsversuche, die ähnliche Merkmale aufweisen: sie verteidigen das einmal unter Mühen Erlernte, sie versuchen es mit Zusatz-Hypothesen zu retten, führen unbestrittene Autoritäten ins Feld, arbeiten mit Verblüffungstechniken (das völlig Unglaubhafte läßt sich leichter glauben als das noch halbwegs Wahrscheinliche). Solchen Paradigma-Rettungsversuchen sind wir schon in der wechselvollen Geschichte der Gravitationstheorien begegnet. Sie versuchen natürlich die je vorherige Theorie zu retten.