3.4.2. Vom Einfachen zum Komplizierten

Wie können wir bei eigenen Versuchen, zu einer neuen Sicht der Gravitation zu kommen, einem solchen Fehler eines Theorie-Rettungsversuchs entgehen? Ich möchte im Folgenden einige wissenschaftstheoretische Orientierungen wiedergeben, die uns davor bewahren können. So ist nach allem, was im Verlauf jahrhundertelanger naturwissenschaftlicher Forschung über die fundamentale Beschaffenheit der Welt herausgefunden wurde, die Annahme naheliegend, dass sich die Natur in ihren Grundbausteinen und Grundprozessen als schließlich überraschend einfach erweist, was auch zu dem Vertrauen berechtigt, dass sie letztendlich durch einfache Gesetze beschreibbar ist. Daher sollte uns auf der Suche nach solchen Grundlagen das methodische Prinzip leiten, immer darauf zu achten, dass unsere Voraussetzungen möglichst einfach sind. Der österreichische Mathematiker, Experimentalphysiker und Philosoph Ernst Mach (1838 - 1916) vertrat die These, dass die Wissenschaft ein historisch gewordenes Instrument des Menschen zur Bewältigung seiner Umwelt sei und sich dem Prinzip der Denkökonomie zu unterwerfen habe. Auch das spricht dafür, alles so einfach wie möglich zu erklären. Das bedeutet aber nicht, alle bisher bekannten Naturgesetze auf dem Wege einer mathematischen Abstraktion auf eine vereinheitlichte übergreifende Theorie zurückzuführen, nach der die Welt funktioniert, denn dieser Anspruch könnte eher zu einer überaus hohen Kompliziertheit einer solchen Gesamttheorie beitragen. Ein näherliegendes Ziel der Forschung könnte vielmehr sein, stattdessen eine geringe Anzahl von je für sich einfacheren Theoriebausteinen zu finden, die voneinander relativ unabhängig sind, aber aufeinander bezogen werden können, und zwar je weniger Bausteine, um so überzeugender. Es könnte sich demnach lohnen, in einem Teilgebiet der Physik einen großen Sprung bis zur tiefsten Ebene zu machen und dies nicht einfach mit nur noch größeren Korpuskelbeschleunigern, sondern auch einmal wieder mit der kritischen Revision althergebrachter Grundvoraussetzungen und einer kreativen Entwicklung angemessenerer neuer Konzepte. Um das im Grunde Wesentliche entdecken zu können, benötigen wir vielleicht einen neuen, klar formulierten gedanklichen Ansatz. Es kann sich lohnen, wenn man ein paar gute Ideen hat, denen man dann nachgeht. Wir müssen vielleicht erst eine Theorie entwickeln darüber, was es mit dem Gegenstand unserer Forschung auf sich hat, bevor wir bestimmte aufschlussreiche Beobachtungen machen können, und nur wenn wir die Natur in der richtigen Weise betrachten, können wir neue überraschende Strukturen finden und diese auf neue Weise verstehen lernen. Wenn man die grundlegende Struktur erst einmal verstanden hat, kann auch die davon abgeleitete Theorie mit wohldefinierten Begriffen einfacher und klarer formuliert werden.

Erst auf solcher Grundlage lohnt es sich, neue Messungen und neue Berechnungen durchzuführen, die in eine formalisierte Theorie eingehen können und, in kurze mathematische Form gebracht, die aktuell bestmögliche Realisierung des gedanklichen Ansatzes ermöglichen. Das kann dann eine sehr schöne, ja aufregende Theorie sein, die sich durch besondere Einfachheit und zugleich Eleganz auszeichnet. Ob nun der ursprüngliche Ansatz heuristisch produktiv war, die davon in Abgleichung mit empirischen Beobachtungen entwickelte Theorie wirklich leistungsfähig ist (nämlich diese Beobachtungen einordnen und zukünftige Beobachtungen und Messergebnisse voraussagen kann), ob die Mathematisierung tatsächlich so gelungen ist, dass die Voraussagen immer genauer zutreffen, das muss sich dann erst erweisen. Dabei wird man ggf. feststellen, dass auf einfachen Annahmen aufbauend eine immer komplizierter werdende Mathematik genutzt werden muss, mit deren Hilfe die ggf. höher werdende Differenziertheit oder auch Kompliziertheit der aus den einfachen Grundlagen ableitbaren oder daraus entwickelten Strukturen genauer beschrieben werden kann. Denn die schließlich ausdifferenzierte Theorie sollte erlauben, speziellere Aussagen zu formulieren, die dann empirisch überprüfbar sind und tatsächlich überprüft werden. Wir werden in den nächsten Jahren eine Menge Spaß daran haben, herauszufinden, ob dieser Interpretation, diesem Modell der physikalischen Realität unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen, oder aber, ob sie uns nicht doch ein ganzes Stück weiterbringt.

Ich will nun doch verraten, dass ich einen Großteil der Formulierungen der letzten beiden Abschnitte dem Buch "Superstrings" entnommen habe (Hrsg. Paul Davies und Julian R. Brown, dtv München, erstmals erschienen bei Birkhäuser, Basel, 1989). In den darin enthaltenen Texten äußern sich mehrere renommierte String-Theoretiker über methodische Grundsätze ihrer Forschungsarbeit, insbesondere auf den Seiten 17/18, 116, 124/125, 161, 208, 254/255, 260/261. Ich bin aber nicht ganz davon überzeugt, dass sie selber den von ihnen proklamierten Prinzipien genügend nachgekommen sind. Das hat mich dazu bewogen, ihre Formulierungen an einigen Stellen zu ergänzen, etwa in Richtung auf einen vorläufigen Verzicht auf die Suche nach der "Großen Vereinheitlichten Theorie". Ansonsten erschienen mir die Überlegungen der String-Theoretiker als durchaus anregend und beachtenswert.

Die von mir zusammengestellten und z.T. ergänzten methodischen Überlegungen der Stringtheoretiker waren zwar ursprünglich auf die allerallgemeinsten String-Theorien bezogen (die immerhin auch die etwas spezifischere Gravitationstheorie einzuschließen versuchen); aber könnten sie nicht auch für eine neue Gravitationstheorie vom klassischen (korpuskularen) Le Sage-Typ gelten? Auch bei ihrer Rezeption, Korrektur, Weiterentwicklung und Überprüfung könnte unser Bestreben darauf gerichtet sein, von möglichst wenig Grundannahmen großer Einfachheit und innerer Konsistenz auszugehen, was ja für jede grundlegende physikalische Theorie erstrebenswert ist. Und ohnehin ist nach M. R. Edwards (Editor's Preface, P, I.) das gegenwärtige Wiederaufleben solcher Le Sage-Modelle in ihrer Einfachheit und gedanklichen Tiefe begründet. Ich schließe mich, mit einer kleinen Ergänzung, seiner Stellungnahme an: Wenn überhaupt für eine Gravitationstheorie gelten sollte, dass sie den Anforderungen von "Occams Rasiermesser" auf Einfachheit, Sparsamkeit und Klarheit entspricht, dann für die Theorie von Le Sage. Das hat ja dazu beigetragen, dass sie immer wieder heraufbeschworen (oder sogar neu erfunden!) wurde von denjenigen, die sich nicht mit mathematischen Beschreibungen der Bewegungen von Körpern unter dem Einfluss der unverstanden gebliebenen Gravitationskraft zufrieden geben, also mit der Kenntnis der "Gravitationsgesetze", sondern die herauszufinden versuchen, welche Mechanismen diesen Gesetzen zugrunde liegen und was die eigentlichen Ursachen der Gravitationseffekte sind. Ihnen stellt sich dann die Frage, nach welcher Art von Wahrheit man mit welchen Mitteln suchen sollte.