3.5.4. "Pushing Gravity": Beiträge zu einer Gravitationstheorie vom Le Sage-Typ

Ich will nun versuchen, eine zu Newtons und Einsteins Ansätzen alternative Erklärung der Gravitationsphänomene, nämlich als Wirkung von Korpuskeln, kurz und prägnant in einer heutigen Sprache und mit heute verständlichen Begriffen wiederzugeben. Erst danach werde ich einzelnen weiteren Aspekten dieses Ansatzes gründlicher nachgehen. Im folgenden beziehe ich mich häufiger auf den von Matthew R. Edwards herausgegebenen Reader "Pushing Gravity. New Perspectives on Le Sage's Theory of Gravitation" (C. Roy Keys Inc., Montreal, Canada, 2002, 316 p.). In den Zitaten verwende ich eine eigene Übersetzung der 23 englischsprachigen Originaltexte. Ich werde weiterhin nur den oder die Autorennamen (es sind zufällig auch 23) und nach dem Buchstaben PG (für "Pushing Gravity“) noch die Seitenzahl angeben. Ich möchte hier vorweg betonen, dass ich dieses Buch mit sehr großem Gewinn durchgearbeitet habe und es für die Darstellung und ausführlichere Begründung meiner eigenen Ansätze maximal nutzen konnte. Dass dies nicht bei jedem Beitrag gleichermaßen möglich war, liegt in der Natur der Sache, nämlich dass es bei Theorien vom Le Sage-Typ verständlicherweise noch eine große Varianz von Zugängen und Spezifizierungen gibt und die Bildung und Überprüfung von Theorien noch längst nicht abgeschlossen ist. Das macht aber gerade den Reiz aus, sich auf diesem noch so wenig beackerten Problemfeld zu betätigen. Für meine eigene Auswahl der herangezogenen (und der stillschweigend ungenannten) Beiträge bin ich selbst verantwortlich.

Die meisten Autoren dieses Readers haben versucht, wenigstens eine Kurzfassung einer Gravitationstheorie vom Le Sage-Typ zu formulieren, deren Inhalt mit dem Buchtitel schon sehr treffend angedeutet wird: "Pushing Gravity" fasst in einen Begriff zusammen einmal die Hauptsache, die Schwerkraft, um die es geht, und zum anderen das Spezifikum, die Stoßkraft (statt einer "Anziehung"), welche die gravitativen Wirkungen zur Folge hat. Mit den Korpuskeln, von denen diese mirakulöse Stoßkraft ausgeht, werden wir uns ebenso zu befassen haben wie mit den Körpern, auf die eine solche Kraft ausgeübt wird. Schon um das Buch "Pushing Gravity" nicht in aller Ausführlichkeit referieren und dabei quasi verdoppeln zu müssen, und um die vielen Wiederholungen ähnlicher Standpunkte und Aspekte zu vermeiden, habe ich mich aber entschlossen, nur eine Auswahl der Inhalte dieses so lesenswerten Buches in einer von mir selbst gewählten systematischen Ordnung und in einem heute verständlichen Zusammenhang wiederzugeben. Wenn ich dabei die von mir referierten (keineswegs die wörtlich zitierten) Fremdtexte an manchen Stellen etwas umformuliert habe, sollte dies dem Ziel dienen, die mir vorliegende Aussage des Autors in den Gesamtzusammenhang unserer Argumentation besser einbeziehen zu können. Falls dies einmal zu einem Sachfehler geführt haben sollte, bitte ich die Leser(innen), die dies festgestellt haben sollten, mich darüber zu informieren. Die von mir versuchte systematische Darstellung macht auch nötig, die in den Originalarbeiten von den Autoren ggf. unterschiedlich verwendeten Begrifflichkeiten etwas zu vereindeutigen. Denn die vielen zitierten Autoren haben im Laufe der Jahrhunderte und in der Entwicklung verschiedener "Schulen" der Physik immer wieder neue Begriffe geprägt, was nicht verwunderlich ist gerade in einem etwas abseits gelegenen Forschungsgebiet wie dem der alternativen Gravitationstheorien vom Typ Le Sage.

So wurden den Korpuskeln, welche nach Le Sage die Schwerkraft bewirken, im Verlauf der Theorienentwicklung die verschiedensten Namen gegeben. Anfangs war sogar noch von „Atomen“ die Rede, ein Begriff, der inzwischen den Hauptbestandteilen der baryonischen Materie vorbehalten ist, obwohl diese keineswegs unteilbar (atomos) sind, sondern als aus Quarks zusammengesetzt erscheinen. In englischsprachiger Literatur gab es den Begriff „gravific“, was in deutscher Aussprache missverständlich sein könnte, obwohl es nichts anderes als „heavymaker“ (Schwermacher) bedeutet. Am wenigsten vorwegnehmend sind die Bezeichnungen Teilchen, Partikel, Korpuskeln oder etwas moderner: Quanten, die dann aber einer Spezifizierung bedürften. Etwas genauer wäre beispielsweise "Gravifix", mit der seit Asterix allen Comic-Freunden vertrauten Endung. Dieses Wort würde viel spezifischer die besondere Eigenart dieser Teilchen kennzeichnen, nämlich sowohl den Bezug zur Schwere (Gravi-) als auch die so hohe Eigengeschwindigkeit dieser Teilchen (-fix)!

Heute ist die Bezeichnung „Gravitonen“ am gebräuchlichsten. Ich vermeide sie in meinem Text, weil ich von einem Fachmann darauf hingewiesen wurde, dass man damit in der modernen Physik bestimmte eindeutig definierte (wenn auch hypothetische) "Austauschteilchen" des Schwerefeldes einer als Anziehungskraft verstandenen Gravitation meint, die auch wegen ihres Spins mit dem Wert 2 nicht einfach mit den Korpuskeln der Le Sage-Theorien gleichgesetzt werden können. Ich nenne diese Teilchen lieber "Gravionen", also "Schwerewanderer", was neben der Schwerewirkung auch das Wandern durch den Raum über größte Entfernungen zum Ausdruck bringen kann. Als "Schwerewanderer" sind sie auch von der Notwendigkeit befreit sind, immer Schwere bewirken zu müssen. Sie könnten ja auch, im leeren Raum, immer weiter wandern, ohne jemals auf eine baryonische Masse zu treffen und diese schwer zu machen. Schließlich ergäbe sich mit dieser Wortwahl auch der Vorteil, dass „Gravionen“ signifikant kleiner wären als „Gravitonen“, nämlich um 1/10 der Buchstabenzahl!

Also: Auch wenn die von mir bisher und in den folgenden Abschnitten referierten Autoren selber sehr unterschiedliche Wörter zur Bezeichnung der Schwere bewirkenden Teilchen verwenden, werde ich in meinem Text (natürlich nicht in wörtlichen Zitaten) auch ihre Ansichten unter Verwendung der von mir vorgeschlagenen Bezeichnung „Gravionen“ vortragen, soweit die Annahme vertretbar ist, dass dabei immer vom gleichen Objekt die Rede ist. Wir müssen uns dabei dessen bewusst sein, dass wir mit dieser Namengebung etwas taufen, was wir noch nicht erwiesen oder gar vorgefunden haben, sondern als etwas noch Unbekanntes dennoch voraussetzen, um bekannte Phänomene besser erklären zu können. Entgegen Newton sage ich also: "hypotheses fingo! bingo!". Die Hypothese muss sich allerdings in ihrer Formulierung als im Prinzip begründbar erweisen und sich dann auch der faktischen Überprüfung stellen.

In der Auseinandersetzung mit den Theorien von Fatio/Le Sage versuchten einige Autoren von "Pushing Gravity", diesen genial-einfachen Ansatz durch Rekurs auf eigentlich konträre andere Ansätze zu "stützen"; tatsächlich wurde er damit aber eher verkompliziert, verwässert oder schließlich destruiert. So wurde von einigen Autoren die bei Le Sage noch eindeutige Korpuskeltheorie (er hatte diese Korpuskel ganz anschaulich aufgezeichnet) durch Anleihen aus den Äther-Theorien ergänzt oder ersetzt. Gegen die Äthertheorie der Gravitation (wie gegen jede andere Äthertheorie) spricht aber schon einmal, dass der Äther als Medium der "Wellen" mehr Materie voraussetzt als die Korpuskular-Strahlung. Die letztere breitet sich im Vakuum sogar unbehinderter aus als in einem vom "Äther" erfüllten Raum. Der Äther, der ja Impulse weiter zu geben hat, und dazu gehören Berührungsmöglichkeiten für Kraftüberträger, würde in dem Falle, in dem er außerdem von Korpuskular-Strahlung durchdrungen würde, dieser Strahlung einen mess- oder einschätzbaren Widerstand ("drag") entgegensetzen. Ein Vakuum ohne Äther dagegen ist, wenn man das so sagen kann, "noch leerer" als ein materiefreier Äther. Gerade wenn supraluminale Geschwindigkeiten (bei fehlender oder geringer Aberration, vgl. 8. 2.) vorausgesetzt werden müssen, ist ein ätherfreier Raum besser geeignet, sie wahrscheinlich zu machen. Im Nichts bewegt es sich offenbar schneller und leichter als im Äther. Oder anders gewendet: supraluminal sich fortbewegende Korpuskeln schaffen mehr Raum. Übrigens: wer hat den Äther "geschaffen", oder besser: aus was ist er entstanden? Wie sah der Raum aus, bevor er von Äther erfüllt wurde? Am besten wir verzichten ganz auf den Äther.

Ein anderer Theorierettungsversuch bestand darin, die Gravitation als Ausbreitung eines langwelligen Elektromagnetismus zu verstehen (John Kierein: Gravitation as a Compton Effect Redshift of Long Wavelength Background Radiation. PG 129 ff.), was die Gravitationstheorie zusätzlich mit dem Problem des Welle-Teilchen-Dualismus belastete. Es wurde auch vage von Gravitationsfeldern gesprochen, auch von solchen, die von schweren Körpern wie der Sonne ausgehen und andere Körper (z.B. Erde und Mond) in ein solches Feld einbeziehen und sie auf diese Weise anziehen. Schließlich ging es einzelnen Autoren darum, die Einsteinsche Allgemeine Relativitätstheorie zu retten, mit dem Risiko, ihre schon diskutierten Schwächen zu konservieren. Im Vergleich zur konsequenten Le Sage-Theorie wurden die aus solchen Rettungsversuchen resultierenden Theorien noch komplizierter, in je verschiedene Richtungen stützungsbedürftig. Ein als letzter zu nennender Rettungsversuch verteidigt nicht eigentlich eine schon etablierte oder eine längst begrabene, aber wieder exhumierte Theorie, sondern einen zukunftweisenden theoretischen Anspruch, nämlich mit Hilfe von Le Sage zur Formulierung einer "vereinheitlichten Theorie über Alles" beitragen zu können. Das hieße aber, an einem Haus weiter bauen zu wollen, dessen einer Grundpfeiler gerade neu gegründet oder gar ersetzt werden muss. Bei einem neu zu planenden und zu bauenden Haus einen Pfeiler auf festerem Grund neu zu setzen, würde wohl weniger riskant sein!

Zum Schluss dieses Abschnitts noch eine selbstkritische Frage: Könnte es sein, dass ich selber versucht habe, mit meinem theoretischen Ansatz etwas oder jemanden zu "retten"? Den Autor Le Sage? Nein, den habe ich erst vor wenigen Wochen erstmals kennen gelernt. Wenn ich bei mir selber überhaupt so etwas wie einen Vormeinungs-Rettungsversuch feststellen kann, dann ist es die Rettung einer prä-Newtonschen Naivität, die nicht bereit ist, eine über riesige Entfernungen wirksame gegenseitige Anziehung zwischen Körpern, eine "vis a fronte", zu akzeptieren. Zunächst überprüfte ich also nur meine eigene Intuition, war dabei noch niemandem verpflichtet, an keine Lehrmeinung gebunden. Inzwischen habe ich mich aber in die Schar der entschiedenen Anhänger von Le Sage eingereiht. Nachdem ich das in Teilen für mich zunächst gar nicht so leicht verständliche Buch "Pushing Gravity" von Edwards und Anderen durchgearbeitet habe, hat sich mein vorher vages Wissen schon fast zu der Überzeugung verdichtet, dass ich es inzwischen wirklich weiß. Deshalb möchte ich das von mir Aufgenommene und Verarbeitete zur Diskussion stellen. Denn es könnte ja sein, dass ich mich irre, wenn ich so sehr von der Wahrheitsnähe dieses Theorieansatzes überzeugt bin!

Doch noch weiß ich mich damit in guter Gesellschaft. M. R. Edwards weist darauf hin, dass dieses Modell wiederholte Male einige der größten Physiker für sich eingenommen hat. Beispielsweise versuchte in den späten 1800er Jahren der britische Physiker Kelvin (W. Lord Kelvin of Largs, 1824 - 1907), die Theorie von Le Sage wiederzubeleben und sie zu modernisieren, sie als kompatibel mit der kinetischen Theorie der Gase aufzuweisen. Über 350 Jahre überlebte Le Sages Theorie als Herausforderung für die weiterhin herrschenden Anziehungstheorien der Gravitation, bis zu einer heutigen Welle von modernen Theorien des Le Sage-Typus. Unter ihnen gibt es viele Punkte der Übereinstimmung, aber auch viele Differenzen. Ich möchte aber darauf verzichten, in einer wissenschaftshistorischen Analyse der Theorienbildung allen Irrungen und Wirrungen nachzugehen. Stattdessen werde ich im folgenden Text eine Auswahl treffen und aus "Pushing Gravity" nur Beiträge referieren, die wenigstens im Grundsätzlichen mit meinem eigenen theoretischen Ansatz kompatibel sind. Und zwar will ich versuchen, in der Tradition von Le Sage eine Theorie in der Art des klassischen korpuskularen Modells im Zusammenhang zu entwickeln. Dabei benutze ich einzelne Beiträge aus "Pushing Gravity" quasi als Bausteine, die ich zu einem in sich stimmigen Theoriemodell zusammenzufügen versuche, in dem ich die grundlegenden Vorstellungen und Begriffe abhandele und in eigener Sicht kritisch untersuche. Dabei könnte sich erweisen, worauf T. Jaakkola in seinem Beitrag (PG 156) hingewiesen hat, dass die Gravitation, auf Beobachtungs- und Theorieebene, ein viel facettenreicheres Phänomen ist als üblicherweise angenommen.