3.9. Weitergehende Hypothesen

Inhaltsverzeichnis

3.9.1. Spekulationen
3.9.2. Kosmogonie: Von der homogenen Urmaterie zum strukturierten Weltall
3.9.3. Strukturbildungen im Kosmos: Filamente zwischen Galaxienhaufen
3.9.4. Die Flucht der peripheren Galaxien nimmt an Geschwindigkeit zu!
3.9.5. Gravionen bewirken beides: periphere Expansion und zentrale Verdichtung
3.9.6. Einladung zur mathematischen Formalisierung der Gravionentheorie
3.9.7. Ausblick

3.9.1. Spekulationen

In den letzten Abschnitten habe ich viele Fragen gestellt, die von fachöffentlich anerkannten Theorien weiterführen in Richtung auf überprüfbare Hypothesen, manchmal aber auch, etwas weniger realistisch, in Richtung auf bloße Denkmöglichkeiten. Zuvor aber hatte ich mir redlich Mühe gegeben, das von vielen anderen Autoren Erarbeitete möglichst sachgemäß zu referieren und mit ausführlichen Zitaten zu belegen. Dass ich dabei selektiv vorgegangen bin, räume ich ein, aber das sollte auch zur Begrenzung des Stoffes verhelfen. Wenn ich mich nun allmählich dem Ende meiner Abhandlung nähere, will ich die Zügel etwas lockerer lassen und werde mir erlauben, am Ende meines Beitrags einige Spekulationen vorzutragen, für die ich auch gern die eigene Verantwortung übernehmen will, zumal wenn sie von anderen Autoren noch nicht oder nur am Rande bedacht worden sind. Ich melde damit aber keine Prioritätsansprüche an, denn es kann schon in früheren Zeiten Autoren gegeben haben, die Ähnliches vorgetragen haben, ohne dass mir dies zur Kenntnis gekommen ist. Ohne die so verdienstvolle Herausgabe des Readers "Pushing Gravity" hätte ich noch nicht einmal Kenntnis von den Problemlösungsansätzen der Genfer Wissenschaftler Fatio de Duillier und Le Sage gehabt, und ich denke, dass es einigen an Problemen der Gravitation interessierten Lesern ähnlich ergangen ist.

Gerade auf die genannten Autoren bezogen kann man mit Recht sagen, dass auch eine noch unvollkommene Erklärung - unvollkommen wegen des Fehlens von neuen empirischen Befunden - immerhin die Neugierde wecken, weitere Fragen anregen und neuere Untersuchungen in Gang setzen kann, nämlich um herauszufinden, ob sich die Erklärung bestätigen läßt. Sie hätte dann immerhin einen heuristischen Wert, könnte neue Fragestellungen generieren. Es genügt sogar schon, wenn Hypothesen in der Art, wie Fatio und Le Sage sie aufgestellt hatten, dazu beitragen konnten, das Problembewusstsein wach zu halten und wenigstens die Fackel des neugierigen Fragens von einem zum anderen und nächsten über ein paar Jahrhunderte weiter zu reichen. Wie wir gesehen haben, sind einige Autoren von "Pushing Gravity" in dieser Arbeit schon erheblich weitergekommen, auch in Versuchen der mathematischen Formalisierung, auf die ich nur hinweisen konnte. Die bloße Mathematisierung ist m.E. jedoch weniger entscheidend als die bessere physikalische Begründung. Denn auch eine empirisch noch nicht voll bestätigte und mathematisch erst in Ansätzen formalisierte Erklärung führt als solche schon weiter als eine wenn auch noch so elegante mathematische Beschreibung, die noch nicht einmal den Versuch einer Erklärung riskiert und, wie wir an Newton und Einstein gesehen haben, die Funktion einer Beruhigungshypothese haben kann, insofern dann ein Weiterfragen als nicht mehr nötig erscheint. Die Formel scheint ja schon die Erklärung zu enthalten. Die letzten Bemerkungen sind keineswegs als Verdikt gegen jedes Spekulieren gemeint, im Gegenteil, ohne spekulative Hypothesenbildung könnten Wissenschaften keine Fortschritte machen.

Über das Generieren empirisch überprüfbarer Hypothesen hinausgehend will ich in diesem Abschnitt sogar riskieren, der Spekulation noch etwas weiteren Raum zu geben. Gerade beim engen Zusammenhang von Gravitation und Kosmologie liegt es nahe, zum Schluss auch noch einige Fragestellungen zu beleuchten, in denen es um den Anfang und das Ende der Welt geht, die also mit dem zu tun haben, was Theologen als Eschatologie bezeichnen. Dann könnte es um Mutmaßungen gehen, die vielleicht gar nicht überprüfbar sind, die uns aber helfen, in einer immer größer und unübersichtlicher werdenden Welt uns besser zurechtzufinden. Ausgangspunkt meiner folgenden Überlegungen ist das schon in einem früheren Abschnitt angesprochene Szenario des Weltenlaufs vom Urknall bis zum Zusammenstürzen aller Materie im letzten und schwärzesten Loch der Löcher. Die Mehrzahl der Kosmologen geht davon aus, dass das Weltall, in dem wir uns heute vorfinden, vor 13 - 18 Milliarden Jahren seinen Anfang hatte in einer Explosion aller Explosionen, sehr treffend als Urknall bezeichnet, der aus der nach außen hin zunehmenden Rotverschiebung von Spektren der Galaxien erschlossen wurde, die wiederum auf einen raumzeitlichen Ausgangspunkt dieser Flucht nach außen schließen läßt. Dieser Urknall hat auch in der elektromagnetischen Hintergrundstrahlung - und nach Meinung der Potsdamer Forscher auch im Spektrum der Gravitationswellen - seine Spuren hinterlassen (B. F. Schutz, G 20), die noch heute von ihm künden (falls es ihn überhaupt gegeben hat!). Zur Rotverschiebung allerdings die kurze Zwischenfrage: Gibt es sie nur, wenn ein leuchtendes Objekt von der Erde wegfliegt, oder könnte es sie auch dann geben, wenn die Erde (und ihre Sonne und die ganze Milchstraße) von dem leuchtenden Objekt wegfliegt? Anders formuliert: sehen wir in den Quasaren die ersten Momentaufnahmen von einigen inzwischen alt gewordenen Objekten im damaligen Zentrum des Weltalls? In diesem Falle müssten sie sich, einen euklidischen Raum vorausgesetzt, an einer Stelle im Himmelsgewölbe häufen. Aber es gibt mindestens ein Argument, dass wir uns nicht an der Peripherie, sondern näher zum Zentrum hin befinden, nämlich die so bemerkenswerte Isotropie der Gravionenstrahlung in unserer näheren Umgebung. Denn an der Peripherie müssten die Gravionen vorwiegend bis sogar ausschließlich aus einer Richtung kommen, nämlich aus dem Zentrum und aus mittleren Bereichen des Universums, jedenfalls nicht von außen, während sie in den mittleren Bereichen des Weltalls aus allen Richtungen kommen sollten.

Der Fluchtbewegung der Galaxien nach außen wirkt nach geltender Lehre eine Kraft entgegen, die Gravitation, die ja Gegenstand unserer Untersuchung ist. Wir erfahren sie, wie ich anfangs dargestellt habe, am eigenen Leibe, haben sie aber auch im planetarischen Maßstab vor Augen, wenn der Mond um die Erde kreist und die Erde mit ihm um die Sonne. Auch die anderen Planeten werden mit gravitativen Kräften der Sonne in ihren elliptischen Orbitalbahnen um unser gemeinsames Zentralgestirn quasi an der langen Leine gehalten. Die um die Sonne rotierenden Planeten und Kometen, von Kant und Laplace noch als Kondensationsprodukte der Rotationsbewegung eines flachen Nebels um seinen zentralen Kern verstanden, könnten aber auch das Ergebnis eines zufälligen Einfangens vagabundierender Himmelskörper durch einen Stern von größerer Masse sein, beginnend mit riesigen Hyperbeln der Trabanten, die auf einen einmaligen Umschwung eines kosmischen Irrläufers um einen massereichen Stern begrenzt sind, nach dem der Fast-schon-Satellit nie mehr wiederkommt, weil er schon von einem anderen Großstern abgelenkt wird oder einfach in die Weiten des Weltraums weiter wandert. Von den engeren Hyperbeln könnte sich eine zur Ellipse geschlossen haben, zunächst zu einer noch extrem asymmetrischen. Erst wenn die Annäherung des Satelliten an die Sonne weitergeht, reduzieren die Ellipsen ihre Auslenkung, nähern sich der Kreisform, und ordnen sich dabei in Mehrfach-Satelliten-Systeme ein, immer eher dort, wo noch Platz ist zwischen den anderen Planeten, zwischen denen sie ihre Kreise ziehen können, statt von ihrer Bahn abgelenkt oder gar vom anderen Planeten eingefangen zu werden. Die Bildung eines planetarischen Systems wäre somit ein quasi stochastischer Prozess, und die heute vorfindbaren Planeten wären die dabei bisher Übriggebliebenen, die schon auf Dauer von der Sonne Eingefangenen, aber von ihr immer noch nicht Aufgefressenen!

Dieser Denkansatz ließe sich fortsetzen. Denn auch Sonnensysteme unterliegen der Gravitation, können von der isotropen Gravionenstrahlung allmählich zum Zentrum ihrer Galaxie hin getrieben werden und schließlich in einem zentralen Schwarzen Loch der Galaxie verschwinden. Bis zu diesem vorläufigen Ende hin sind alle möglichen Zwischenstufen denkbar und vorfindbar, etwa die Verschmelzung von massereichen Doppelsternen und ggf. Neutronensternen. Je mehr Masse dabei zusammenkommt, um so eher ist das Ergebnis solcher Verschmelzungen erstmals oder wiederum ein Schwarzes Loch (B. E. Schutz, G 23). Neben solch außergewöhnlichen Ereignissen könnte ein Normalfall eher von der Art sein, dass das Schwarze Loch immer wieder mal auch kleinere Sternhäppchen aufnimmt, ohne dass seine dadurch fortgesetzte Selbstvergrößerung katastrophal eskaliert. Das Schwarze Loch vergrößert sich dann eher allmählich, etwa nach dem aus dem Neuen Testament überlieferten Spruch: "Wer hat, dem wird noch gegeben".

Wenn dieses Größerwerden allmählich zur Ruhe kommt, bleibt dann nur noch eine riesige kalte Sternleiche übrig? Gälte dies dann auch für die Vielzahl Schwarzer Löcher, die sich durch die "Flucht der Galaxien" immer weiter voneinander entfernen? Immerhin nimmt man heute an (Wolfgang J. Duschl, Das Zentrum der Milchstraße, Spektrum der Wissenschaft, April 2003), dass es für "Galaxien ... der Normalfall zu sein (scheint), dass sich in ihrem Innersten jeweils ein Schwarzes Loch verbirgt". Wenn dann über gravitative Einflüsse sehr große Massen etwa von Molekülwolken oder von kompakter Materie auf dieses Schwarze Loch zugetrieben werden und in dieses hineinstürzen, kann dieses als "aktiver galaktischer Kern" mit vorübergehend sogar besonders starker Leuchtkraft in Erscheinung treten. Da es nun außer Einzelgalaxien auch Galaxienhaufen gibt, besteht die Möglichkeit, dass zwei oder mehrere von ihnen mitsamt ihren zentralen Schwarzen Löchern ineinander zusammenstürzen, also noch erheblich vergrößerte Schwarze Löcher bilden, die auch die Materie, die sich in Materiebrücken zwischen Galaxienhaufen (in "intergalaktischen Filamenten") angehäuft hat, weiter an sich ziehen können. Führt dies nun in weiteren Milliarden Jahren dazu, dass über solche Vorstrukturen schließlich der ganze Kosmos sich zusammenzieht, bis zu einem totalen Massenkollaps in einer letzthinnigen Super-Singularität, in der am Ende der Zeiten alles Sein in einem ultimaten "Schwarzen Loch" in sich zusammenstürzt? Dann würde dem Alpha des Big Bang das Omega des Big Crunch entsprechen, des finalen Zermalmens aller Materie des Universums in einem superschwarzen Loch der Löcher. Das ließe die Möglichkeit offen, dass ein auf diese Weise implodiertes Universum dann in einem erneuten Big Bang wieder explodiert und alle Kosmogonie und Weltengeschichte wieder von vorn anfängt. Es gibt sogar Spekulationen darüber, ob nicht diese neue Weltentwicklung sich genau wieder wie die vorher abgelaufene vollzieht, "da capo al fine", oder etwas philosophischer, als die "Ewige Wiederkehr" im Spätwerk von Friedrich Nietzsche. Solche Spekulationen, die das All mit pulsierender und schließlich stetiger Ewigkeit versehen, sind offenbar für viele (Ex)Monotheisten sehr attraktiv, weil sie erlauben, das All einerseits als Eines zu sehen, andererseits als in der Zeit unendlich, was einige Attribute Gottes aufgreift und damit als höchstes Ziel metaphysischer Spekulation gelten könnte.

Ich selber sehe die Dinge anders: Wie schon auf Erden könnten "gefräßige Monster" und "Möchtegern-Alleinherrscher" auch in der Kosmologie natürliche Grenzen haben. Solche zentralen Mächte verlieren ihren Einfluss in der Peripherie, wo sich gleichzeitig die Macht der Konkurrenten verstärkt. So könnte die Kette der intergalaktischen Filamente, durch welche die Galaxienhaufen miteinander verbunden sind, wegen zentrifugaler Gravionenwirkungen auch auseinanderreißen, so dass schließlich isolierte Welteninseln in die leeren Weiten des Weltalls auseinanderdriften, deren mögliche Bewohner nicht mehr die geringste Ahnung davon haben, dass es neben ihrer eigenen Welteninsel auch noch andere gibt. Sie könnten ihren Galaxienhaufen nicht nur für die beste aller Welten, sondern für die einzige Welt halten, für das Weltall! Eine solche Isolierung muss natürlich nicht jede der vielen hundert Millionen Galaxien betreffen, aber immerhin doch einzelne Gruppen davon, in denen etwaige extraterrestrische Bewohner nichts mehr davon erfahren können, dass es außer dem Schwarzen Loch ihrer Galaxie noch viele weitere gibt, die genauso gefräßig sind, und dass außer ihrer "Welt" noch viele andere "Welten" existieren. Unter uns Menschen hat Stanislav Lem in seinen Werken solche Möglichkeiten so klar dargestellt, als wäre er selbst aus einer solchen anderen Welt zu uns gekommen.

Abgesehen von Effekten der zunehmenden Entfernung kosmischer Materieaggregationen voneinander könnte es auch jeweils vor Ort eine natürliche Grenze der Selbstvergrößerung auf Kosten Anderer geben, ähnlich wie auf Erden. Jedes einzelne Schwarze Loch, das sich zum Loch der Löcher aufschwingen wollte, zur Mutter oder gar zum Vater aller Löcher, scheitert irgendwann mit diesem Vorhaben, einfach weil es mit seiner Gefräßigkeit im Umfeld keine Beute mehr findet. Es wird daher wohl keine letzthinnige Singularität am Ende der Zeiten geben, wie es vielleicht auch am Anfang der Zeiten keine ersthinnige Singularität gab, die etwa in einer creatio ex nihilo ("Erschaffung aus Nichts") zum expandierenden Weltall auseinander platzte. Da klingt die alte philosophische Frage an: "Warum gibt es überhaupt Etwas, und nicht vielmehr Nichts?" Ein mir leider nicht mehr erinnerlicher Autor hat diesem Diktum entgegengehalten, dass genau so wie das Sein auch ein totales Nichtsein unerklärlich wäre. Dann ergäbe sich nämlich die Frage: "Warum gibt es denn überhaupt Nichts, und nicht vielmehr Etwas?" Eine naheliegende Lösung solcher Grübelfragen könnte in der allerdings gleichermaßen unbegründbaren Zuversicht bestehen, dass es wahrscheinlich immer schon etwas gegeben habe, was auch immer, denn zumindest heute gibt es ja etwas. Und dass alles immer schon war, ist wohl nicht schwerer zu akzeptieren, als dass alles einen oder gar einen plötzlich-explosiven Anfang hatte.