Gehen wir nun noch einmal zurück zu der Computer-Simulation von Stoehr und White. Dass diese zu einem realistischen, der heute beobachtbaren Verteilung von Sternen und Galaxien entsprechenden Ergebnis führte, lag ja darin begründet, dass die Autoren gleichermaßen die Auswirkungen einer zentrifugalen Expansion und einer zentripetalen Gravitation berücksichtigt hatten (G 91). Denn die Galaxien "haben neben dem von Hubble festgestellten allgemeinen Auseinanderstreben ... jedoch auch eine Eigenbewegung aufgrund der Anziehungskraft anderer Materie in der näheren Umgebung. So können sich Galaxien in unserer Nähe auch auf uns zu bewegen. Dies ist beispielsweise bei (H. Sch.: der Spiralgalaxie) Andromeda der Fall, mit der die Milchstraße in einigen Milliarden Jahren kollidieren wird" (G 88).
Auch die im Folgenden von mir diskutierten Arbeiten gehen zunächst von zwei als unabhängig verstandenen Prozessen der Kosmogonie aus, nämlich von der durch den Urknall bedingten Expansion und der durch die Gravitation bedingten Verdichtung. Das gilt z.B. für die interessante Arbeit von Jeremiah P. Ostriker und Paul J. Steinhardt mit dem esoterisch klingenden Titel "Die Quintessenz des Universums" (SW S. 32 - 39), in der die Autoren aber ganz sachlich und kenntnisreich aktuelle Ergebnisse astronomischer Forschung darstellen und diskutieren. Sie kennen natürlich die gängige Theorie, dass die Entwicklung des Universums mit dem Urknall begann, dann zu einer zunächst homogenen Verteilung kleinster Teilchen führte und sich in Richtung auf allmählich kompakter werdende Materieansammlungen fortsetzte. Erst dann konnte die Schwerkraft diese Materie noch dichter zusammenziehen (H. Sch.: zusammentreiben!). Diese stetige Kondensation führte schließlich zur Bildung immer größerer und komplexerer Strukturen wie den ersten Galaxien.
Die kanadische Astronomin Wendy Freedman betont stärker den Aspekt der Expansion. In ihrem Beitrag über "Das expandierende Universum" (Spektrum der Wissenschaft, Juni 2003, S. 46 - 54) geht sie unter Bezug auf Hubble und andere Astronomen zunächst von der Feststellung aus, dass sich die Galaxien "mit immer größerer Geschwindigkeit von uns fortzubewegen scheinen, je größer ihre Entfernung von uns ist - so, wie es bei einer Expansion des Raumes zu erwarten ist" (S. 47). Auch weiter unten heißt es, dass durch die Expansion des Raumes (!) die Fluchtgeschwindigkeit mit der Entfernung anwachse (ich selber möchte aber annehmen, dass nicht "der Raum" expandiert, sondern dass die Materieansammlungen in der Peripherie des Kosmos und insofern im Raum nach außen getrieben werden). Nach Informationen über die Methoden der modernen Astronomie, Stern-Entfernungen und Stern-Geschwindigkeiten abzuschätzen (S. 48 - 50) und daraus die Werte der Hubble-Konstante und des Weltalters abzuleiten (S. 51), referiert die Autorin neuere Befunde, die darauf hindeuten, dass sich das Weltall sogar mit zunehmender Geschwindigkeit ausdehnt. Auch Ostriker und Steinhardt befassen sich mit dieser Entdeckung und referieren, dass im Jahre 1998 zwei unabhängige Forschergruppen bei Messungen an weit entfernten Supernovae eine Änderung der Expansionsrate nachweisen konnten. Beide Gruppen schlossen aus ihren Messergebnissen, dass sich die Expansion des Universums beschleunigt (SW 34).
Es war insbesondere das (nach dem Astronomen Hubble benannte) extraterrestrische Hubble-Teleskop, das solche verbesserten Beobachtungen und Entfernungsbestimmungen vor allem von entfernten Supernovae möglich machte. Aus ihnen ergab sich, dass die weit entfernten Galaxien nicht nur mit - im Vergleich zu näheren Galaxien - größerer Geschwindigkeit sich immer weiter von uns fortbewegen, sondern dass sich ihre je eigene Fluchtgeschwindigkeit aktuell noch ständig erhöht, und zwar um so mehr, je größer sie ohnehin schon ist. Die peripheren Galaxien expandieren demnach nicht etwa nur seit dem anfänglichen Urknall schneller als die uns nahegelegenen, sondern ihre Expansion nimmt weiterhin an Geschwindigkeit zu, so dass sich das Universum immer schneller ausdehnen wird. Es muss also eine Kraft geben, die ganz aktuell weiter auf die peripheren Galaxien einwirkt und deren Expansion zunehmend beschleunigt. Aber durch welche Kraft oder Energie geschieht das? Leider tappen die Astronomen bis heute völlig im Dunklen, was man ganz wörtlich nehmen kann: Sie konnten diese ihnen noch unbekannte Kraft, wohl in Analogie zur gleichermaßen unbekannten "Dunklen Materie", vorerst nur als "Dunkle Energie" kennzeichnen.
Um die zunehmend beschleunigte Ausdehnung des Weltalls zu erklären, ist auch K. Weaver genötigt, zwischen zwei Arten von Kräften zu unterscheiden: einerseits der Schwereanziehung, die in einem geschlossenen Weltall schließlich zum "Big Crunch", zur großen finalen Selbstzermalmung führen würde, und andererseits einer bisher unbekannten abstoßenden "Kraft ... , die der Gravitation entgegenwirkt. Für diese Abstoßungskraft hat sich inzwischen der Begriff 'Dunkle Energie' eingebürgert" (S. 52). So nehmen auch Ostriker und Steinhardt an, dass es im Universum eine "Dunkle Energie" gibt, von ihnen als "Quintessenz" bezeichnet, die auf baryonische Materie gravitativ abstoßend einwirkt (Q 33). Die vom Druck der Dunklen Energie bewirkte Abstoßung trägt dazu bei, dass baryonische Körper auseinanderstreben und sich im Raum mehr oder weniger gleichmäßig verteilen und das Volumen des Weltalls stetig vergrößern.
Nach derzeit diskutierten Schätzungen macht die Dunkle Energie sogar einen Großteil der Substanz des Universums aus. Obgleich aber die Dunkle Energie einer riesigen Gesamtmasse entspricht, sind die einzelnen in ihr als Strahlung wirkenden "Quintessenz-Teilchen" je für sich so "unvorstellbar massearm" (SW 36) und so fein verteilt, "daß ihre Energiedichte kaum vier Elektronenvolt pro Kubikmillimeter beträgt - für einen Teilchenphysiker unvorstellbar wenig" (SW 36). Die Dunkle Energie hat sich im Verlauf der Kosmogonie und der Weiterentwicklung des Universums über Milliarden Jahre in ihrem Ausmaß und in ihren Wirkungsrichtungen verändert und ist damit "eine zeitlich und räumlich variable Energiequelle" (SW 36).
K. Weaver meint, dass diese "Dunkle Energie oder, physikalischer ausgedrückt, die Energiedichte des Vakuums", möglicherweise durch die kosmologische Konstante von Albert Einstein repräsentiert werde. Diese Energiedichte übe einen "negativen Druck" aus, der zu jener beschleunigten Expansion führe, die wir beobachten (S. 52). Die Autorin schätzt, dass die Vakuum-Energiedichte, die sie als für die Expansion des Kosmos verantwortlich ansieht, etwa 70% zur Gesamtdichte an Materie und Energie in einem flachen Universum beitragen müsse. Ich denke, dass dieser Wert noch etwas zusammenschrumpfen wird. Das Endergebnis ihrer Überlegungen, dass unter diesen Bedingungen das Weltall seinen Anfang vor 13,7 Milliarden gehabt habe, ist von ihren Voraussetzungen her gut begründet. Auch Ostriker und Steinhardt gehen davon aus, dass durch den Expansionseffekt der von ihnen als "Quintessenz" bezeichneten Dunklen Energie das aus anderen Daten geschätzte Alter des Universums wieder in Einklang mit dem berechneten Alter der ältesten Himmelskörper komme (SW 34).