Das Buch hat bei mir sehr unterschiedliche Reaktionen aufkommen lassen, von der vollen Zustimmung bis zur recht kritischen Distanz. Wenn ich jedoch überzeugt bin, etwas kritisieren zu müssen, möchte ich es zuvor möglichst korrekt referiert haben, sogar in wörtlichen Zitaten, die jemand an Hand der Seitenzahl überprüfen kann, was zwar etwas umständlich ist, aber zur Klärung beitragen kann. Und wenn ich das zu Referierende außerdem noch gründlich durchdiskutieren möchte, kann ich mich schon gar nicht mehr kurz fassen. Eine Kurzfassung, die sich nicht einfach als Werbetext versteht, sondern auch Kritik einschließt, könnte auch leicht als Verriss missverstanden werden. Das wäre aber völlig unangemessen und auch sehr schade, weil es in diesem Buch viel zu entdecken gibt; vor allem regt es, vielleicht wegen seines essayistischen Stils, zum Weiterdenken an. Nach einigem Zögern habe ich mir schließlich erlaubt, die Beschränkung auf das textgetreue Referieren aufzuheben und eigenen Überlegungen Raum zu geben. Hoffentlich nicht zu viel! Aber wer im folgenden Text zu viel „Schauer“ vorzufinden meint, sollte Lorenzen selber lesen, und sich von seinem "Schwarzen" zu eigenen Gedanken anregen lassen.
Ich habe den philosophisch-literarischen Essay von Lorenzen mit großem Interesse gelesen, schon deshalb, weil ich den Autor kenne und schätze und auch, weil ich zuvor schon sein Kant-Buch "Metaphysik als Grenzgang" (Meiner, Hamburg, 1991) gründlich und mit großem Gewinn für mich durchgearbeitet hatte. Anders als in jener in sich geschlossenen Ausdeutung der Gedankengänge des großen Philosophen des kategorischen Imperativs befasst sich Lorenzen in seiner Philosophie des Schwarzen in vier Betrachtungen mit anscheinend recht unterschiedlichen Sujets: Kierkegaards "Krankheit zum Tode", Flauberts "Madame Bovary" und Tolstois "Anna Karenina", Pisanos Statuen der "Propheten" und Tiepolos Würzburger Fresken und eines seiner Gemälde. So verschieden diese Sujets sind - philosophische Texte, Romane, Skulpturen und Gemälde, dazu noch aus unterschiedlichen Herkunftsländern, Zeiten und Stilepochen - so bewährt sich an ihnen dennoch gleichermaßen die vom Autor gewählte Vorgehensweise: In seinen Analysen bleibt er nahe an den Texten und Objekten, vertieft sich in sie und lässt sie zu Wort kommen und in Erscheinung treten, leider nur in der Vorstellung, ohne beigefügtes Bildmaterial. Er lädt den Leser dazu ein, ihm dabei zu folgen, ohne dass er den so evozierten Eindruck durch die Diskussion einer umfangreicheren Sekundärliteratur verwischen würde. Der Philosoph und der Kunstkenner und Kunstliebhaber, der an schöner Literatur und an bildender Kunst interessiert ist, kann schon bei diesen Einzelanalysen auf seine Kosten kommen.
Aber der wesentliche Beitrag des Autors liegt in seinem philosophischen Gesamtansatz. Um diesen näher zu charakterisieren, bin ich geneigt, Titel und Untertitel des Buches etwas zu verändern: "Die Epiphanie des Bösen. Ein postmoderner Gottesrettungsversuch". Zur Begründung dieser Änderung dient die nun neu ansetzende und auf diese Thematik zentrierte Buchbesprechung. Über die Einzelanalysen hinausgehend entwickelt Lorenzen in sehr origineller und an einigen Stellen sehr persönlicher Weise die übergreifende Thematik des "Schwarzen". Er umkreist sie etwa so, wie es Johannes von Allesch für die psychologische Analyse einer "Gestalt" forderte, nämlich in tangentialen Bestimmungen eines Ganzen, wobei der Autor notwendigerweise aus jeder neuen Perspektive des einen Objekts oder am jeweils neuen Objekt der Betrachtung frühere Einschätzungen und Bewertungen in jeweils neuer Formulierung wieder aufgreifen und insoweit wiederholen muss. Aber ich möchte betonen, dass das Buch von Lorenzen durchaus eine stringente innere Systematik erkennen lässt, die ich im Folgenden herauszuarbeiten versuche. Daher werde ich in meiner Rezension nicht der vom Autor vorgegebenen Kapitel-Gliederung folgen, sondern versuche herauszuarbeiten, was ich als das Gesamtergebnis von Max Lorenzens philosophischer Auseinandersetzung mit dem Bösen (dem "Schwarzen") ansehe. Ich trage dies in einer selbst gewählten Gliederung vor, die sich an den allgemeineren Aussagen orientiert, die Lorenzen an seinen Sujets immer wieder neu erarbeitet, und beginne mit dem, was ich als theoretische Grundlage des Ganzen ansehe und im Ansatz und Ergebnis voll bestätigen kann und unterstreichen möchte: mit seiner Theorie des (nicht nur nachmodernen!) Pluralismus.
Lorenzens Ansatz hat bedeutende Vorläufer: An Montaigne und an Nietzsche erinnert die von Lorenzen immer wieder betonte Vielfalt und Mannigfaltigkeit der Perspektiven, die Fülle der Bezüge in der Betrachtung der Welt. Er verdeutlicht dies an den Fresken Tiepolos und ihren Allegorien, denen man sich am besten wie auf einem Spaziergang im Park nähern könne, in Biegungen und Kreisen, die häufig wieder, aber aus anderen Richtungen, an schon gesehene Plätze und Aussichtspunkte führen (198). Dieses Bild gibt übrigens zugleich die Argumentationsweise von Lorenzen treffend wieder. Der Aspektenreichtum ergibt sich aus der Vieldimensionalität der Wirklichkeit, deren Teil wir sind. Auch wir selber sind vieldimensional angelegt, und können je nach der Situation, in der wir uns befinden, die eine oder andere Seite unserer Persönlichkeit realisieren, in einer in Zukunft vermutlich noch größer werdenden Spannweite des sich scheinbar Ausschließenden, das dennoch in einer Psyche koexistieren kann (276). Lorenzen geht sogar soweit, die Formel "Ich bin viele" zu verwenden (96, 203), die wir aus der Forschung über Multiple Persönlichkeiten (J. F. Casey u.a.) kennen. Es ist aber, wie ich anmerken möchte, gerade das Ich (oder besser: das Selbst), das in besonderer Weise in der Lage ist, Vielheit und Verschiedenheit zur jeweiligen Ganzheit (nicht: Einheit!) zu integrieren. Wenn überhaupt in unserer Welt etwas "ganz" und "lebendige Gestalt" ist, dann ist es das Selbst eines Menschen, das in Kommunikation mit anderen Menschen Sinngefüge schaffen kann, in denen Pluralität in einer Ganzheit bewahrt bleiben kann (vgl. 231).
Gegenüber der von manchen Denkern behaupteten Autonomie eines transzendenten Sinnes betont Lorenzen die Mitbeteiligung denkender und miteinander kommunizierender Menschen am Aufbau von Sinn (91, 151, 157 und passim), so auch auf Seite 232: "Ein Ich gehört nicht nur einem Netz von (Sinn-)Gefügen an, an dessen Herstellung auch viele andere Personen mitwirken, sondern es reproduziert (solche) Struktur auch in sich selbst". Das setzt voraus, dass der Mensch den Kontakt mit anderen Menschen sucht und sich im Gespräch mit ihnen austauscht (224, 270), und sich dabei auf die Unterschiedlichkeit des Denkens und der Erfahrung Anderer einlässt: "... Die Haltung der Toleranz (ist) mindestens so wichtig, wie ... einen Bereich des Solidarischen zu stiften" (275). Lorenzen erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass man Toleranz auch gegenüber eigenen Intentionen, also gegenüber sich selbst gewähren sollte. So sieht er "eine Verhaltensweise der Duldung und Akzeptanz als Grundlage des Umgangs der Menschen miteinander und mit sich selbst" (237).
Dass Lorenzen diese Haltung mehrfach als "demokratisch" bezeichnet, und zwar nicht nur im Bereich der Politik, sondern erweitert auf Philosophie, Kunst und Literatur (88), stört mich nur in der Wortwahl. Denn "Demokratie" hatte ursprünglich die Bedeutung von Volks-Herrschaft. Und ein Wort, in dem es eigentlich um Herrschaft geht, finde ich nicht angemessen zur Kennzeichnung eines Pluralismus, der ja gerade der Kontrolle von (Allein)Herrschaft dienen soll. Auch die Herrschaft des Volkes ist kontrollbedürftig, insbesondere der "Volkszorn" muss im gegebenen Falle gebändigt werden, wenn die Mehrheit des Volkes die eine oder andere Minderheit unterdrückt oder verfolgt. Deshalb sind Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit mindestens so wichtig wie die Demokratie, außerdem sind sie auch pluralistischer. In der Pluralität geht es nämlich nicht um Mehrheiten und ihre politische Durchsetzung, sondern um das Zusammenwirken von Teilgruppen und Institutionen, die voneinander relativ unabhängig sind. Da Toleranz und Akzeptanz besser herrschaftsfrei (im alten Sinne der gar nicht so chaotischen Anarchie) zu realisieren sind, sollte daher in den von Lorenzen gemeinten Zusammenhängen eher von Pluralität als von Demokratie gesprochen werden.
Zu dieser Thematik gehört auch, wie der Autor mit dem Spannungsverhältnis von Fortschritt und Tradition umgeht. Er betont zunächst in heraklitischer Weise die Notwendigkeit von Veränderung und von dynamischer Bewegung (63, 70, 221/222), die in immer andere Zusammenhänge, zu immer neuen Zielen führen kann. Zu solcher Beweglichkeit gehört die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu verändern, ohne dabei seine Identität aufzugeben (252), in einer unabschließbaren Vielfalt unserer Existenz (243), die aber zugleich mit ihrer Endlichkeit und Sterblichkeit rechnet, und darüber hinaus mit dem immer währenden Auf- und Abbauen von Seiendem. Die Unendbarkeit der Veränderung geht aber nicht ins Beliebige, sondern orientiert sich an dem weiter bestehenden Ideal von Fortschritt und Weiterentwicklung (233 - 235, 252, 269). Lorenzen akzeptiert aber durchaus, "dass jeder Mensch weiterhin einer Gemeinschaft mit tradierten Wertvorstellungen angehört" (252), mit der Fähigkeit und Möglichkeit "sich zu verändern und doch ein eigenes gesellschaftliches, wie individuelles Muster beizubehalten" (252).
Was in solchen einzelnen Formulierungen manchmal als etwas blasse Abstraktion
erscheint, ist im Gesamtzusammenhang als Programm zur Befreiung von Zwang,
Einengung und geistiger Bevormundung zu sehen. Lorenzen erlebt dies selbst
sehr persönlich und bringt es auch immer wieder zum Ausdruck: als Zuwachs
an Freiheit, an Lust und Freude, an der Schaffung vielfältiger Sinngefüge
mitbeteiligt zu sein, als Bejahung des eigenen Daseins und Zustimmung
zum Sosein und auch Anderssein anderer Menschen, und ganz persönlich,
wenn
auch fast noch zaghaft: "... Ein Gefühl in mir, das durchaus den
Namen Glück verdient" (244). Es ist verbunden mit einer Offenheit
für die Fülle des Seins, einem Verfügenkönnen über sich selber und die
eigene, neu akzeptierte Vergangenheit (154/155). Auf das Hier und Jetzt
bezogen gehen Sinnbezug und Genuss eine neue Verbindung ein, kann vom
eigenen Engagement Freude und Lust erwartet werden (272). So weit, so
gut, so positiv, so hell und freundlich.
Aber ... da kommt eine dunkle Wolke auf, wirft Schatten, taucht Mensch und Welt in Finsternis: Das Böse! Lorenzen hat dafür verschiedene Namen, die je verschiedene Aspekte des Bösen meinen und genauer anzielen. Ich werde sie, einen nach dem anderen, referieren und beginne mit dem "Numinosen". Wenn Lorenzen schon ziemlich am Anfang seines Buches (14) schreibt, die wichtigsten Begriffe der Europäischen Geschichte seien auf ein Numinoses bezogen, und die Entwicklung des Numinosen ziehe sich schon durch die Jahrhunderte (17), dann kann es sich dabei eigentlich nur um den Gott der Juden, Christen und Muslime handeln, um den Monotheos. Tatsächlich sind "Gott" und "das Numinose" bei Lorenzen austauschbar, aber er zieht den letzteren Begriff vor. Warum wohl? Will er vielleicht Gott schonen oder diejenigen, die an ihn glauben? Denn was er im weiteren Text über das Numinose schreibt, ist recht negativ, und dies zu Recht. Es entspricht dem, wie vorchristliche Slaven ihren Gott Čorneboh (= schwarzer Gott) sahen und fürchteten, nämlich als das Böse in der Welt, im Unterschied zu dem guten Bíleboh (dem weißen Gott), und es entspricht gleichermaßen den "bösen" Aspekten des jüdisch-christlichen Monotheos, seinem Einzigkeits- und Absolutheitsanspruch, seiner Eifersucht, seinem Zorn, seiner Parteilichkeit gegenüber den von ihm Auserwählten und den üblen Drohungen gegen die von ihm Verworfenen, gegen Un- und Andersgläubige, Zweifler und Abtrünnige. Dieses Numinose okkupiert die Mitte der Gesellschaft, aber weil es sie gänzlich umfassen und durchdringen will, muss es sich bis in die Peripherie ausdehnen und alles vereinnahmen: "Damit wird eine zerstörerische Macht entfesselt" (148). Lorenzen sieht sehr klar das Gewaltpotential dieses Numinosen, dessen Allmacht von den an Ihn Glaubenden sogar noch mit positiven Konnotationen versehen wird, so als könne Allmacht etwas Gutes sein. Dagegen Lorenzen: "Wir wissen inzwischen, dass der Wahrheitsprozess des Numinosen der entfesselten Gewalt bedarf; und dies immer verschwiegen zu haben, kann man die ihm zu seiner Existenz erforderliche Lüge nennen"(141). Oder auf Seite 59: "Die Erlösung ... war immer ein Truggebilde, denn das Falsche, die Lüge und die Gewalt, gehörten ihr untrennbar an". Es ist deutlich, dass es hier eigentlich um den totalitären Monotheos geht, der nämlich beansprucht, das Zentrum von allem und zugleich dessen "Wahrheit" zu sein. Dies wird aber durch den Begriff "das Numinose" eher verdeckt und im Geheimnis vernebelt, ähnlich auch mit der Bezeichnung "das Unwägbare", das doch sehr an "Gottes unerforschlichen Ratschluss" erinnert. Wir sollten auch bedenken, dass das lateinische Wort Numen ursprünglich eigentlich "Wink" oder "Geheiß" bedeutet und in diesem Sinngehalt auch (und sogar eher) für die Götter des Polytheismus und die heiligen Wesen und Kräfte animistischer Religionen anwendbar ist, sogar in ganz positiver Bedeutung: Auf die Winke der Götter und Göttinnen sollte man achten, sie im Ernstfall wenigstens als "heißen Tipp" berücksichtigen!
Aber kehren wir zu dem zurück, das Lorenzen in seinem Buch als das Numinose bezeichnet, zwar mit unglücklicher Wortwahl, aber mit klarem Inhalt. Sehr erhellend ist es, mit Lorenzen die Entwicklung des Numinosen bis zu seinem Ende nachzuvollziehen. Da riskiert Lorenzen die m.E. völlig plausible Auffassung, das in seinen Absolutheitsanspruch verrannte Numinose "zerdehne" sich in einer Art Selbstinflation in das Ganze des Alls, und dieses sich Aufblähen bis zum Zerplatzen führe schließlich zur Selbstvernichtung, zum Suizid des Numinosen. Der Absolutheitsanspruch sei es, der jede Gewaltanwendung legitimiere, die sich nicht nur gegen äußere Gegner, sondern schließlich auch gegen die eigenen Anhänger und das eigene System richte. Lorenzen belegt dies in vielen Beispielen (vor allem im Teil 3, 139 - 159) am Stalinismus und am Hitler-Regime. Sie sind in der Tat in vielen Hinsichten Weiterentwicklungen von ursprünglich monotheistischen (jüdisch-christlichen) Orientierungen, und so konnte bis vor wenigen Jahrzehnten und wieder ganz aktuell seit dem 11. 09. 2001 von der Gefahr eines schlussendlichen Suizids des Numinosen im Har Mageddon gesprochen werden. Oder aber von der für uns positiven Chance seiner Selbstabschaffung? Das hängt davon ab, wie groß die Zahl der Opfer sein wird. Eine freiwillige Demission des Monotheos unter friedlichen Umständen, jedenfalls ohne Atomkrieg, wäre sehr zu wünschen!
Ein weiterer Aspekt des Bösen ist das, was Lorenzen als die grausame Gleichgültigkeit der kontingenten Faktizität, des transzendenzlosen Zufalls darstellt. In der Einleitung und im unbenannt gebliebenen Teil 1 spricht er diese Problematik erstmals an, im Abschlusskapital (Teil 6) greift er sie wieder auf. Er findet viele Worte für das Fremde, die eisige Kälte und die Leere da draußen, im All, im Nichts, das er als Weglosigkeit, als rätselhaft und hoffnungslos, vor allem aber in seiner Gleichgültigkeit und Mitleidlosigkeit als schließlich erbarmungslos grausam und gewaltsam empfindet, das den Menschen lähmt und zum Verstummen bringt. Aber ist das wirklich so, wie Lorenzen es darstellt, und muss man es so sehen, wie Lorenzen es erlebt? Ich selber, der ich jetzt die Position des Rezensenten verlasse und die des Kritikers übernehme, sehe das ganz anders: Das heute für mich und andere Menschen erfahrbare All, das "Draußen", ist zwar weitgehend fremd, jedenfalls alles andere als wohnlich oder gar heimelig-vertraut, es ist auch ziemlich kalt (außer an den Stellen, wo es überaus heiß ist), dort "ist" auch viel "Nichts", aber dieses Nichts und das All hat mit uns nichts vor, kümmert sich nicht um uns und hat auch nichts gegen uns. Es bedrängt uns nicht und es verspricht uns nichts, so dass es uns auch nicht enttäuschen kann.
Ganz anders der Gott: Der fordert in seiner Ansprüchlichkeit von uns sehr viel, und zwar für sich, nämlich absoluten Gehorsam, jedenfalls viel mehr, als ein Mensch leisten kann. Vor allem aber verspricht Gott viel mehr, als er halten kann, jedenfalls mehr als er bisher gehalten hatte. Gott hat sein Erlösungsversprechen immer nur kundgetan, aber nicht realisiert. Er wird dies wohl erst am Sankt-Nimmerleins-Tag endlich tun! Es ist also nicht das "fühllose" All, sondern der "liebende" Gott, dem man mit gewissem Recht Gleichgültigkeit, Mitleidslosigkeit, Erbarmungslosigkeit und schließlich, da er ja allwissend und allmächtig ist, auch Gewaltsamkeit, Brutalität und Grausamkeit vorwerfen kann, so wie es Hiob in seiner bewegenden Klage getan hatte - bis Hiob schließlich doch einknickte und sich der Übermacht seines Gottes ergab.
Wenn der Monotheos den Menschen nicht versprochen hätte, sie liebevoll zu schützen und ihnen alles zum Guten zu wenden, könnten sie das Negative in der Welt, das eigentlich nur ein gegenüber den Menschen Neutrales ist, gelassener hinnehmen und aktiver nach dem Positiven suchen oder es selbst herbeiführen. Denn das Böse, Gleichgültige etc. der Kontingenz und Faktizität ist ein beklagenswerter Mangel nur gemessen an den "Verheißungen", Gott würde sich um den Menschen, um sein Ebenbild, besonders kümmern. Damit verglichen "verheißt" die Natur überhaupt nichts, und so ist es auch nicht besonders enttäuschend oder auch nur bemerkenswert, wenn sie sich um uns nicht kümmert, faktisch nicht weniger als Gott, der sich ja auch nicht kümmert. Aber dem nehmen wir es mit Recht übel! Denn nur und gerade einem Gott, der auch freundlich am Menschen interessiert und sogar liebevoll um ihn besorgt sein könnte, dem kann man, wenn er stattdessen faktisch gleichgültig ist, dies in tiefer Enttäuschung vorwerfen. Wenn aber Max Lorenzen stattdessen die Leere und Kälte des All als gleichgültig, fremd und böse anklagt, dann empfinde ich das schon als eine von ihm zwar nicht intendierte, aber als doch wirksame Entlastungsoffensive zu Gunsten des Gottes, der dafür dankbar sein könnte. Denn sie verschafft Gott eine neue Art "Teufel", dem er alles faktisch Negative aufladen kann, um dann um so mehr sein eigenes, göttliches "Gutes" herauszukehren, ohne jede Nötigung, es auch zu realisieren!
Ich komme nun zu einem weiteren Aspekt des Bösen, der von Lorenzen als "das Unwägbare" (202 ff.) benannt wird. Er bezeichnet es auch als das Unbestimmbare, das Unbegreifliche (279), die Rätselhaftigkeit, und ich könnte diese Kennzeichnungen fortsetzen mit der probaten christlich-apologetischen Antwort auf einen Versuch, mit klaren Fragen auf klare Antworten zu drängen: "Das ist ein Geheimnis!" Hier gelangen wir in das weite Feld der negativen Theologie, in das unergründliche Reich des deus absconditus: "Es schwebt eine Gefahr über dieser Welt, die nur als dasjenige, was jenseits aller Sprachmöglichkeiten liegt, erahnbar wird" (184) oder später im Text: "Etwas fordert uns geradezu dazu auf, in der gegenwärtigen Vielfältigkeit ein (!) anderes zu entdecken, das sich dennoch unserem Verständnis entzieht, aber uns ahnen lässt, was uns bevorsteht" (227). Mit dem "Unwägbaren" macht Lorenzen somit aus dem Bösen eine "Dassheit": dass es dies für ihn zwar gibt, aber dass es für ihn nicht erkennbar ist. Das entspricht einer weit verbreiteten Praxis evangelischer Theologie, die sogar den Glauben zu einer Dassheit machen kann: Dass es ihn gibt - ohne weiter zu fragen oder gar die Frage zu beantworten, was da geglaubt wird. Vielleicht ein Unwägbares! Zwar betont Lorenzen (242), dass seine Erkenntnis nicht (nicht mehr?) zentrumsorientiert sei, aber ich habe den Verdacht, dass in solchen Passagen sein Pluralismus eher blass-theoretisch ist, seine Restbeziehung zu Gott aber immer noch schwarz-emotional weiterlebt. Ist das Unwägbare vielleicht auch als Gottesrettungsversuch zu verstehen, etwa nach dem Motto: "Wenn schon kein "lieber Gott", dann doch wenigstens ein schwarz und böse "Unwägbares"? Für diese Hypothese sprechen einige Formulierungen von Lorenzen, in denen er diesem schwarzen Wesen böse Intentionen zuschreibt: einen "Vernichtungswillen" ( 152), "es gibt keine Gnade mehr...", und dass "uns ... ein Übermaß des Schreckens zugeteilt" sei (158), dass ein Unwägbares in (die nachmodernen Verläufe) eingreift (221), dass man nichts gegen ihn vermag (278), "ein Verhängnis über allem Leben, gegen das anzukämpfen völlig aussichtslos ist" (226), "... aber unser Untergang mag beschlossene Sache sein, bis er uns ereilt ..." (259). Von wem wohl beschlossen? In unerforschlichem Ratschluss? Und weiter Lorenzen: "... Und ich weiß jetzt, dass ich nicht umhin komme, ihm die Herrschaft zu überlassen, ... es wird mir nicht gelingen, eine Möglichkeit zu entwerfen, die seiner Macht standhielte" (265) und schließlich: "(es) hat sich ... durchgesetzt, wie es das seit Äonen tut". Es? Nein, Er! Gott! Da ist Er wieder, der Eine Allmächtige, nur dass Er hier ausnehmend böse ist: Die zitierten Formulierungen häufen sich übrigens am Ende des Buches, so dass sie als Fazit wirken.
Das Böse, von Lorenzen als "das Numinose", "die Kontingenz" und "die Unwägbarkeit" angesprochen, ist nach den Schilderungen des Autors nicht einfach irgendwo oder überall, sondern es manifestiert sich jeweils immer wieder neu in einer sehr christlich anmutenden Sequenz von böser Schuld und schlimmer Strafe. Ich will versuchen, quasi in einem Durchschnittsbild die wesentlichen Aspekte dieser Sequenz wiederzugeben. Sie beginnt in der Regel mit einem Positivum, oft aber auch mit einer unauffälligen Alltäglichkeit: "... in den normalen Dingen des Lebens, sozusagen in seinem Alltagsbereich ..." (42/43). Als Anstoß genügt schon ein wenig Behaglichkeit, ein kleines Glück, Befriedigung und Zufriedenheit: "Ich komme nicht umhin, mich zu freuen ..." (244), oder das bloße Schwinden von Not und Anspannung: "Wir befanden uns gerade in einem Moment des Aufatmens. Es begann quasi um uns herum eine Art Zone des Glücks zu entstehen" (32), und dieses Positive wird oft noch von Lorenzen mit Einschränkungen versehen, wie "ein wenig ... klein ... partiell gelingend ... eine Weile ... ein Moment ... quasi ... ", "eine Möglichkeit, die sich eröffnet", also noch ganz bescheiden, gar nicht so viel, ganz weit entfernt von Hybris und überzogenen Ansprüchen. Manchmal ist das Glück noch gar nicht eingetreten, sondern die Sequenz beginnt mit der bloßen Hoffnung (70), dem Wunsch (119), dem Bedürfnis (254), dem Impuls (226), mit dem Versuch, Glück zu finden (215), mit dem "Streben, Glück und Zufriedenheit in seinem Leben überwiegen zu lassen" (279). Dazu gehört etwa: "Ich liebe eine Frau, meine Lebensgefährtin, und meine beiden Kinder" (36). Aber all dieses bescheidene Glück ist offenbar schon zu viel, und es wird, das kann ich hier schon vorweg nehmen, schlimm bestraft. Lorenzen fragt sich dann ganz ernsthaft: "Warum ist es so eingerichtet, dass selbst in den normalen Dingen des Lebens, sozusagen in seinem Alltagsbereich, sich eine Möglichkeit der Befriedigung, ja des Glücks, nur öffnet, in dem sie uns eine andere ... entzieht? (42)
Vom Bösen bedroht ist aber vor allem die Erfahrung des Neuen, der Freiheit und Lebendigkeit: " ... der Geschmack an meinem neuen Dasein" (156), "die neuen Daseinsbedingungen" (158), "die neuen Möglichkeiten des Lebens" (215), "die neue Freiheit" (244), "die Erneuerung des Lebens aus sich selbst". Was ist denn so schändlich und bestrafenswert an diesem Neuen? Ist es vielleicht schon dies, dass dabei die Sinnstiftung vom Menschen ausgeht (71), statt wie bisher von Gott? Ist es die dem Einzigkeits- und Absolutheitsanspruch entgegengesetzte Pluralität von Sinn? Dazu einige Zitate: "Jener (Sinn) bietet sich uns in einer neuen Fülle" (70), "die heutige Pluralität" (152), "die nachmoderne Sinnvielfalt" (156), "meine Freude an diesem in sich vielfältigen Dasein" (203), "sich dem Dasein in seiner Mannigfaltigkeit zuzuwenden" (226), "die Zustimmung zu dieser Welt, wie sie ist, die gerade auch das Fremde umfasst" (246), und schließlich "die Mannigfaltigkeit partikularer Sinnerfahrung" (247), "die Endlichkeit jeden Partialsinns" (255) und "die pluralistische Konzeption von Moral" (274). Stört Ihn, den Einen, diese Pluralität, und geht dies alles Ihm schon zu weit, lässt es Ihn so richtig böse werden? Und, nebenbei gesagt, und in Vorwegnahme eines später angesprochenen Aspekts: Gehört zu dieser anscheinend strafwürdigen Mannigfaltigkeit vielleicht auch die Vielfalt der Beziehungsmöglichkeiten etwa mit attraktiven Frauen? Denn am meisten bedroht durch nachfolgendes Unglück ist das besonders Schöne: "Ein ungefähr 8-jähriges Mädchen, das das Unglück hatte (sic!), schön zu sein, große braune oder schwarze Augen und eben solches Haar, sowie ein ebenmäßiges Gesicht zu besitzen" (es war bei einem Erdbeben zur Hälfte verschüttet worden und konnte nicht gerettet werden) oder der Gipfel des auch sexuellen Glücks, so etwa bezogen auf den Roman "Anna Karenina" von Tolstoi: "Alles war gut und schön ..., der Held des Romans war schon im Begriff, den Gipfel seines Glücks zu erreichen ... und Anna teilte sein dringendes Verlangen ..., als plötzlich ... "
Das mindeste Negative, das in solchen Momenten geschieht und alles Positive verschattet, ja für eine gewisse Zeit wegwischen könnte, ist ein plötzliches, für den Glücklichen selbst überraschendes Gefühl der Scham oder der Schuld, und zwar ohne recht zu wissen, warum und wofür, sondern einfach so. Da kommt auf einmal ein schlechtes Gewissen auf: "Der gegen sich selbst gewendete psychische Terror des Individuums" (79), "als riefe ihr (oder ihm) eine innere Stimme zu ..." (117). Aber es bleibt nicht bei Gefühlen der Scham und des Schuldigseins; es kommt Angst auf, und noch schlimmer, Verzweiflung: "Aber etwas Unvorhergesehenes ... ist dazwischen getreten ... Es hat mich erschüttert, mein Nervenkostüm durcheinander gebracht, Ängste geweckt ... so etwas wie Furcht hat mich angefallen ..." (65), "jetzt ... taucht etwas auf, vor dem ich mich fürchten muss" (154), "jetzt aber ist es etwas geschehen, was mir Angst macht" (226), und schließlich: "... meine Verzweiflung ist hoffnungslos" (157), aber diese noch psychischen Negativreaktionen auf eigenes Glück genügen dem Bösen noch nicht. Das Schwarze (oder sollte man besser sagen: der Schwarze?) schlägt selber zu. Lorenzen schildert dies in vielen Beispielen und immer wieder neuen sprachlichen Wendungen" ... ein schreckliches Ereignis ..." (9), "das mich ... mit der Wucht (eines) Schicksalsschlages traf ..." (24), "das nun, wie mit einem schrecklichen Zauber- (oder Schicksals-)schlag, jeden bestraft" (215), "... damit (war) auch mein Lebenszusammenhang getroffen, meiner und der meiner Lebensgefährtin" (32). Etwas allgemeiner sind die folgenden Formulierungen: "(es) gestaltet sich eine Bedrohung, deren Ausmaß wir nur schätzen können"(224), "(dieses Wesen) hat Macht, eine ungeheure Macht geht von ihm aus"(250), "(die) brutale Gewalt, die jede menschliche Sinnstiftung zerschlägt" (91), "(seine) Gnadenlosigkeit gegenüber allem, das verletzlich ist ..." (279).
Aber das Böse begnügt sich nicht damit, Glück zu mindern oder zu schädigen. Es zielt auf die Vernichtung der Existenz des Glücklichen: "ich begreife, dass es (mein Dasein) vernichten wird" (203), "in die Lebendigkeit ... hat sich ein Tod eingeschlichen" (243), "ich begreife, (dass ich) unrettbar verloren (bin) in meinem eigenen Leben ... ich selbst bin das, was stirbt ..." (267). Aber, so kommentiere ich, bemerkenswert ist nicht so sehr, dass tatsächlich etwas Schlimmes droht oder sogar geschieht, denn es geschieht ohnehin so viel Schlimmes, auch als Folge von Armut, Dummheit und menschlicher Grausamkeit. Bemerkenswert ist vielmehr, dass das Schlimme als Folge von Glück und als Strafe für Glück aufgefasst wird, und dass es immer noch dem Einen, gleich ob Gott oder dem "Schwarzen", zugerechnet wird, das Schlimme bewirken zu können oder es als Strafe für Glück bewirkt zu haben. Das ist das Schlimmste daran in meiner Sicht, ein moralischer Skandal. Und das möchte ich geändert sehen! Aber diese Sichtweise steckt noch tief in uns, und auch Max Lorenzen ist noch nicht frei davon, wenn er, bezogen auf schwarze Erfahrungen nach glücklichen Momenten, bitter ausruft: "Welch ein richtiger Moment für das, was man früher Schicksalsschlag nannte" (32) und 10 Seiten später, in leiser Ironie: "normalerweise, das weiß tatsächlich schon jedes Kind, wird ein glücklicher Moment durch das Eintreten eines Übels zerstört ..." (42). Das lässt mich vermuten, dass schon der kleine Max solche Sprüche zu hören bekommen hatte! Vom erwachsenen Max Lorenzen wird das auf den Höhepunkt des Glücks folgende Negative mit kritischen Worten kommentiert: "Wer jedoch das eigene Glück als höchste Wahrheit setzt, der verirrt sich - so lautete der Grundsatz aller religiös-metaphysischen Moral" (131). Das erinnert mich, den Rezensenten, an die christlich-demütige Haltung gegenüber Unglück und Tod in dem so oft zitierten Bibelspruch: "Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gelobt!" Gott der Schöpfer wird auch noch als Gott der Zerstörer angebetet und so akzeptiert der christliche Leser, was ein böser Gott der Anna Karenina als Strafe für ihr Glücklichsein zumisst! Ich könnte auch sagen: Das ist ein schlichter alter Aberglaube, christlich legitimiert, in Einzelfällen depressiv unterlegt.
Aber wenn wir das alles ernst nehmen, dann kommt doch die Frage auf: was ist das für ein Gott, der Glück und sexuelle Erfüllung bestraft? Lorenzen stellt sich diese Frage und riskiert klare Antworten. An vielen Stellen seines Buches spricht Lorenzen vom Tückischen, und auch dieses wird, wie schon zuvor "das Numinose", die "Kontingenz" und das "Unwägbare", als Singular ausgedrückt, eben als wiederum "das Böse": "Ja, so verhält es sich: Durch diese Welt wandert etwas Tückisches, das überall dort zur Stelle ist (wo es jemandem gut geht). Das Tückische ist die alltägliche Erscheinungsform des Bösen" (43), "das Tückische (in) meiner alltäglichen Existenz" (279). Es ist etwas, "(was) voller Bosheit und Sadismus schon auf (sie) wartet" (152), "(dahinter) bereits lauert" (156, 239), "weil (etwas) Heimtückisches lauert" (265), "(mich), beschleicht ..., wie von hinterrücks" (226), "mich hinterrücks (überfällt)" (247). Ich kann nur sagen: Ganz schön feige, das Tückische! Es dementiert das Positive "mit Leichtigkeit" (156), es unterminiert "scheinbar mühelos meine neuen (Möglichkeiten)" (158), es "durchkreuzt (die Vielfalt) in brutaler Weise" (244), "wir sind (seiner) Heimtücke schutzlos ausgeliefert " (279), es setzt sich unweigerlich durch (265). Und es ist schließlich auch gewalttätig, eine "sich bis zur Bösartigkeit steigernde brutale Gewalt, die (alles) zerschlägt" (71). In diesen Einschätzungen scheint Max Lorenzen die Seligpreisungen der Bergpredigt vor allem in ihrer Negativseite ernst zu nehmen: "Die Ersten werden die Letzten sein; verflucht sei der, dem es gut geht; der Glückliche soll von Pech verfolgt werden, etc." Das wäre in der Tat ein tückischer Gott, der dem Menschen sein faktisches Glück nicht gönnt, der Frau ihre sexuelle Erfüllung und gesellschaftliche Emanzipation verwehrt, und der sich darauf beschränkt, den Elenden dieser Erde die Seligkeit im Himmel zu versprechen, aber es nicht lassen kann, ihnen ihr faktisches kleines Tagesglück schon wieder wegzunehmen oder es ihnen zumindest mies zu machen. Da lobe ich mir eine solche Bergpredigt: „Ziemlich selig ist der, dem es gut geht. Sein Glück soll lange währen! Er sollte dann aber dem, der in Not ist, etwas von seinem Glück und Reichtum abgeben, oder noch besser, auch diesem dazu verhelfen, seine elende Situation zu verbessern und dann auch mit eigenen Mitteln glücklicher zu werden“.
Es gibt schon bei Max Lorenzen Abschwächungen der Annahme, das Böse sei allumfassend und insofern gottähnlich. Die erste Abschwächung habe ich schon dargestellt, nämlich das Böse, das begrenzt ist auf die Strafe als Konsequenz des unerlaubten Glücks. Immerhin gibt es dann auch mal Glück, wenn auch nur ephemer, immer vom Leid und Tod bedroht. Eine zweite Einschränkung der Totalität des Bösen besteht darin, dass in den Texten, Statuen und Bildern, mit denen Lorenzen sich beschäftigt und auch in seinen eigenen Überlegungen, das Böse sich in seltsamer Weise mit dem Weiblichen assoziiert. In diesem Buch gibt es viele Stellen (Zitate, Beschreibungen von Bildern und Statuen, auch - aber seltener - eigene Kommentare von Lorenzen), in denen das Böse, verengt auf "das Schwarze", in Gestalt einer verführerischen und vitalen Frau erscheint oder mit ihr schicksalhaft verbunden ist. Denn auch das Schuldig- und Bestraftwerden trifft nicht jeden gleichermaßen. Schuldig wird eher die Frau, jedenfalls eignet sie sich ganz besonders dazu, vom Bösen "angeschwärzt" zu werden. Ich will damit nicht unterstellen, dass der Autor nichts von Frauen hält - im Gegenteil -, aber er registriert feinfühlig auch noch die letzten Ausläufer einer schon alttestamentarischen Frauenverachtung (schon die weibliche Schlange verführte mit Hilfe der noch weiblicheren Eva den so männlichen Adam!), die vom Christentum bis zum Frauenhass der Hexenverfolgung gesteigert wurde. Davon würde Lorenzen sich sicher distanzieren, aber auch in seinen Analysen und Fantasien sind Frauen in Schuld verstrickt: Sie machen Vorwürfe oder sie ziehen Vorwürfe auf sich, oder sie lassen Männer schuldig werden. Dabei ist festzuhalten, dass der Anlass für solches Schuldigwerden meist etwas durchaus Positives ist, denn die Frau, um die es in den analysierten Romanen und interpretierten Bildwerken geht, ist bezaubernd schön, voller Leben, sie sucht nach Liebe und höchstem Glück, sucht Befreiung und setzt sich kraftvoll dafür ein. Aber offenbar passt das dem Mann (dem Herrgott) nicht, es geht ihm zu weit und wohl irgendwie gegen die Ehre. Denn die Frau scheint damit eine Grenze zu überschreiten: Sie gewinnt Macht über den Mann, strebt Herrschaft an, lehnt sich auf. Sie tritt damit ein in die Rolle des Lieblingsengels des Herrn, der als Luzifer (Lichtträger) ja auch zunächst ganz positiv benannt wurde, aber für seine Hybris mit dem tiefsten Fall in das Dunkel der Hölle bestraft wurde. So positiv also die Frau geschildert oder dargestellt wird, in letzter Konsequenz bringt sie doch nur Unheil, dem Mann und sich selbst.
Zu diesem Aspekt zitiere ich einige mit der Frau assoziierte negative Konsequenzen (wegen der Fülle der Zitate verzichte ich auch hier auf die Angabe der jeweiligen Seite): Da geht es um ihre Gier, ihre Raserei, er erliegt ihrem "Zauber", sie zwingt ihm ihren Willen auf, fordert Unterwerfung, sie korrumpiert ihn, sie zog ihn in ihren Bann, er war ihr ausgeliefert, sie fasziniert ihn; ihr entfesselter Leib, das offenliegende Geschlecht, die Spalte mit den beiden Schamlippen ... zwischen den Beinen, sie greift dem Gott ans Geschlecht, sie ist verführerisch, ihr Blick trifft mich und löst Scham aus, mir selber peinlich, sie provoziert Gefühle von Scham und Schuld; pervers, obszön, sie zeigt etwas Verbotenes, Tabuiertes, Unkeuschheit. Aber wie schon das Böse hat auch die Frau etwas Tückisches, das furchtbar Heimtückische des Bösen, es liefert sie der Lüge aus, ihr Gesicht: eine aufgesetzte Maske, verzerrt, das vom Dämon gezeichnete Gesicht, ihr maliziös-unergründlicher Blick, abgründig, sie gibt mir höhnisch zu verstehen, eignet sich das Gesicht eines Lebendigen an. Sie ist wie ein Tier, ein Pferd, Tier und Mensch zugleich, Geier, Krähe, Schlange, die Schlange windet sich durch ihren Leib. Sie ist voll Hochmut, ihr Ziel ist etwas Unmögliches, eine Gegenwelt, sie verirrt sich (geht vom rechten Wege ab), ihre Seele verliert sich, stürzt in den Abgrund, ist in der Gewalt des Abgrundes. Sie ist vom Teufel besessen, das Teuflische, ein weiblicher Teufel, sie bekommt etwas Dämonisches, versammelt alle Kräfte des Bösen in sich, sie spürt einen Schauder vor ihrem eigenen Dasein. Sie ist die Verursacherin des Bösen, das Gewaltsame, dieser Vernichtungswille, sie initiiert den Zerfall, Lust am Tod, sie hat etwas Schreckliches, Erbarmungsloses, Fremdes, sie verfällt dem Hass und der Kälte, sie ist grausam, blickt mit ihren Augen auf die verwüstete Schöpfung, ihr Werk der Zerstörung, die Verlockung zum Nichts, ein Vernichtungskampf, der Betrachter soll teilnehmen an dem Morden. Da ist ein Sog, der die Energie seines Lebenswillens umkehren und dazu verwenden will, den Tod, anderer wie den eigenen, herbeizuführen. Es geht um die Strafe, die ein feindliches Geschick ihr zumisst, sie wird mit Aussatz bestraft, wird aus der Gesellschaft herausgeschleudert, sie ist suizidal, ihre Seele wird in Stücke gerissen, auf sie wartet das Feuer, die Hölle, sie stürzt in die Tiefe.
Der Leser kann hier nur ausrufen: Welch üble Beschimpfungen und Diffamierungen
von weiblichen Emanzipations-Versuchen sind in dieser Aufzählung versammelt!
Und er könnte sich fragen: Warum ist das Böse in den Beispielfällen dieses
Buches eigentlich so weiblich? Ich möchte selber ein paar Antworten anbieten:
- Das Böse ist weiblich, weil der Herrgott so männlich ist, und Er duldet
nichts neben sich, schon mal keinen männlichen Gott neben Ihm. Nur unter
Ihm gab es noch den Teufel, und ist der wirklich ein Mann? Gott duldet
aber erst recht keine Göttin neben sich, schon gar keine starke, vitale,
sinnliche, attraktive Göttin!
- ..., weil die Juden, bei denen der ursprünglich ägyptische Monotheos
schließlich alle anderen Götter niedergerungen hatte und als Einziger
an der Macht bleiben konnte, insgesamt patriarchalisch organisiert waren.
- ..., weil die Sexualität bei den Hirtennomaden männlich-viehzüchterisch
reglementiert war und der Vermehrung der Herde und des Stammes zu dienen
hatte, aber nicht dem Lustgewinn der Frau.
Andere Gründe:
- Weil die erste Konkurrenz des Mono-Theos eine Schlange, wahrscheinlich
sogar eine Schlangengöttin war, die als erste eine Frau, nämlich die Eva,
dazu brachte, das Gebot des Herrn zu übertreten und dann auch den Adam
dazu zu verführen.
- Weil die verweiblichten Städter so sündig waren, vor allem die "Hure
Babylon".
- Weil katholische Priester zölibatär leben, und die Sexualität für sie
so etwas wie eine weibliche Ursünde ist.
- Weil sich die männliche Sexualgier so leicht auf ihr Objekt, auf die
Frau, projizieren läßt.
- Weil auch einem sexuell abstinenten Mann im Traum eine verführerische
Frau erscheinen und ihm seinen männlichen Samen rauben kann.
- Weil es mehr Hexen als Teufel gab, jedenfalls mehr Hexen als Teufel
verbrannt wurden. Übrigens haben Hexen und andere Frauen unten (da geht
es zur Hölle!) ein Loch, in dem es ganz dunkel ist, wenn nicht gar schwarz!
Aber, so könnte man meinen, das alles ist Vergangenheit, finsteres Mittelalter. Aber ist das wirklich so? Warum ist dann das Böse auch heutzutage immer noch so weiblich? Wenn das Böse aber "irgendwie" weiblich ist, dann ist dieses Böse schon nicht mehr abstrakt "numinos", "kontingent", "unwägbar", kein immer auf das Gute folgender schlimmer Schatten, sondern es ist dann konkret etwas in der Welt neben anderem, z.B. neben dem Männlichen. Und sind Männer wirklich im Prinzip "gut"? Nicht nur Frauen können da ihre Zweifel haben.
Aber für Lorenzen wachsen "das Numinose", "die Kontingenz",
"die Unwägbarkeit", die Bestrafung des Glücks und das vitale
Weib schließlich zu einem zusammen: zum Bösen, das er auch "das Schwarze"
nennt. Für ihn ist das jeweils ein Singular, "eigentlich" immer
"irgendwie" dasselbe, und erst recht "das Böse" ist
singulär, wird von ihm jedenfalls immer wieder so aufgefasst, besonders
am Anfang (14, 24, 29, 32, 65) und am Ende (244, 250, 278, 279) seines
Buches. "Das Böse" ist aber zugleich auch "das Schwarze",
vor allem in den Passagen des Texts, in denen Lorenzen sehr persönliche
Erfahrungen mitteilt. Da geht es ihm um "das Schwarze des Lebens"
(36), um "die völlige Schwärze des Daseins" (267). Für Schwärze
kann man auch Finsternis oder Dunkelheit setzen, oder auf S. 156: "Erst
hieraus wird deutlich, welche Düsternis uns umgibt und durchdringt",
was wiederum die Allgegenwart und das Umgreifende (K. Jaspers) des Schwarzen
anklingen läßt. Aber warum ist das Böse so schwarz? Und das Schwarze so
schlimm? Auf diese Fragen versuche ich wieder ein paar eigene Antworten
zu geben:
- Weil Gott das Licht ist, im Himmel dort oben, allwissend wie die Sonne,
die ein göttliches Auge ist über allem;
- weil es himmlische "Verklärung" und "Erleuchtung"
gibt;
- weil Jesus und vielleicht auch Maria sich in der "Himmelfahrt"
zum obersten Licht begeben haben.
Gott hat auf Bildnissen einen Strahlenkranz, die Heiligen haben Heiligenscheine,
alles Himmlische ist "auratisch", von einer Aura umgeben. -
Die Götter Ra (die Sonne) und Aton (die Sonnenscheibe) waren in Ägypten
der Ursprung des Monotheismus. - Noch bei Jesaja gibt es einen Hinweis
auf eine morgendliche Begrüßung und abendliche Verabschiedung der Sonne
durch Jahwe-Priester! Berühmt ist auch der "Sonnengesang" (in
den Psalmen), der vermutlich auch altägyptischer Herkunft ist. Von einem
hebräischen Verb bahar ("leuchten") ist vielleicht auch das
hebräische Wort für "Erwählen" und schließlich "Auserwähltheit"
abgeleitet.
Dunkel hingegen ist es in der Höhle, hinten (im Schatten), unten im Loch,
und drinnen. Wer ans Licht will, muss wieder heraus kommen. Der Tod ist
in der dunklen Unterwelt, der Teufel ist in der Hölle, die nur von der
Glut des Höllenfeuers schwach beleuchtet wird. Er treibt in der Nacht
sein Unwesen, in den winterlichen Zwölfnächten; er bedrängt den Menschen
im nächtlichen Traum und im Albtraum. Dennoch ist zu fragen, ob man "das
Schwarze" wirklich so schwarz sehen muss. Immerhin gibt es außer
dem Schwarzen auch das Graue, Helle und Weiße, in allen Schattierungen
und Zwischentönen, und von diesen unbunten Tönen ausgehend gibt es fließende
Übergänge bis zum satt Farbigen und lebendig Bunten.
Gibt es nicht auch ein positives Dunkel, ein prächtig glänzendes Lackschwarz,
einen schwarz-dunklen Hintergrund für alles, was sich farbig, leuchtend,
strahlend, glänzend, bunt und lebendig davon abhebt? Beachten wir auch
die Beziehung zwischen Licht und Schatten: der Schatten ist quasi ein
Nebeneffekt des Lichts, nämlich der Beleuchtung von lichtundurchlässigen
und damit schattenwerfenden Objekten. Solcher Schatten ist nicht böse,
sondern einfach hinten (von der Lichtquelle her gesehen). Aber das vorher
Verschattete wird hell, wenn der Körper sich umdreht oder der Betrachter
ihn von der anderen Seite beleuchtet und damit in einem anderen Aspekt
betrachten kann. Damit wären wir wieder bei der eingangs diskutierten
Vielfalt der Perspektiven, die unser Autor sehr wohl kennt und sogar wichtig
nimmt.
An dieser Stelle unserer Betrachtung sollten wir wieder auf ihren Anfang zurückkommen: Im ersten inhaltsbezogenen Teil des Diskussion habe ich darauf hingewiesen, dass Lorenzen die Pluralität der Nachmoderne in ihren verschiedenen Hinsichten sehr gut erfasst hat. Er berücksichtigte dabei aber nur ihre positiven Ausprägungen. Das Negative dagegen ist für ihn weiterhin ein Einziges, von ihm als "das Numinose", "die Kontingenz" und "das Unwägbare" benannt, und schließlich als ziemlich weiblich und sehr schwarz erlebt. Schon mit der singulären Bezeichnung "das Schwarze" verleiht er dem Bösen eine Einheit und Zentralität und auf diese Weise schafft er dem metaphysisch Einen des jüdisch-christlichen Glaubens und der davon abgeleiteten Philosophie eine faktische Kontinuität über den Tod Gottes hinaus. Dabei kennt Lorenzen sehr wohl den "Versuch des Numinosen ... , die in seinem Zentrum konzentrierten Kräfte permanent bis an die Peripherie ... (auszudehnen)" (143), also inflationär aufzublähen. Aber gerät er nicht selbst, vom Bösen zugleich erschreckt und fasziniert, in die Gefahr oder wenigstens Verlegenheit, dieses Böse in immer weiteren Überlegungen immer mehr anschwellen zu lassen? Ich könnte fortsetzen: bis zum Zerplatzen!
Zurück zum eigentlichen Problem: Es kann nicht sein, dass einer Pluralität der Positivitäten nur ein Negatives, das Schwarze, gegenübersteht. Es muss mehrere, voneinander unabhängige Negativitäten geben, denn sonst wären auch die Positivitäten nicht plural, sondern es gäbe nur ein summum bonum. Gegen die Singularität des Bösen spricht einerseits die durchgehende Polarität von Gut und Böse, die zu jedem (pluralen!) Guten ein entsprechendes (plurales!) Böses erwarten läßt, anderseits die immer wieder bestätigte Erfahrung, dass die Wahrheit keine Sonderbereiche und Sperrzonen kennt, sondern umfassend und konsistent ist und auf Verallgemeinerbarkeit hinzielt. Auch wenn diese Aussage nicht schlüssig beweisbar ist, so ist ihr wesentlicher Inhalt doch immerhin wünschenswert. So wäre es gut, wenn Lorenzen das Schwarze in verschiedene Teilbereiche, Teilphänomene, Aspekte "zerdehnen" würde, die zwar aufeinander beziehbar sind, aber doch voneinander relativ unabhängig. Sie können je für sich wichtig genommen und gefürchtet, aber auch verworfen werden, ohne sich dabei zu einem Bösen zusammenzuballen.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein paar kluge Gedankengänge von Lorenzen hinweisen, in denen er sich mit dem "Zerdehnen" eines absolut gesetzten Einen in seine Teile befasst. In einem ersten Schritt geschieht solche Dehnung in der Erfahrung, die ein Eigentliches oder Eigenes auch als ein Anderes erscheinen läßt: "... das verhülfe uns dazu, zu begreifen, dass das Leben und das Böse uns (gleichermaßen) ansehen" (266). Das eine Ganze dehnt sich aber nicht nur in zwei Teilbereiche, die einander sogar als Gegensätze gegenüberstehen, oder auch indem das Eine gegenläufig oder "gegenwendig in sich selber" (269) wird. Es zerdehnt sich vielmehr in Vieles: "Was immer ich denke, fühle oder tue, gehört verschiedenen Sphären an, die ... doch koexistieren. So entsteht ein uneinheitliches Gefüge ... " (277). Dieses verliert dadurch auch seinen bisher festen, alles bestimmenden Mittelpunkt, wird mittelpunktlos (223, 269), mit dem positiven Effekt, dass der aktuelle Schwerpunkt zwischen dem einen und dem anderen (mehreren Anderen!) hin- und herwandern kann (23) und die Teilbereiche einander durchdringen, aber sich auch voneinander lösen können. Der Strom solcher Dehnungsbewegungen bewirkt immer neue Transformationen, in denen sich die Spannkraft des Schöpferischen aufbaut. Und, so ergänze ich die Überlegungen unseres Autors, das alles gilt auch für das Böse, das Schwarze, das Numinose, die Kontingenz und die Unwägbarkeit! Sollen sie doch zusehen, wie sie als nicht mehr Einziges, sondern als nun Einzelne miteinander zurechtkommen, und mit ihren jeweiligen Positivitäten! Und wir selber sollten es hinnehmen, dass zwar vieles nicht gut und schön ist, sondern misslich, schädlich, misslungen, auch wirklich schlecht und schlimm, aber so abgrundtief und letzthinnig böse ist es nun wieder auch nicht. Oft kann man damit leben, und manchmal kann man es besser und sogar gut machen.
Ich ergänze deshalb: Die Pluralität des Bösen und dessen enger Zusammenhang mit der Pluralität des Guten ist auch von den Einzelwissenschaften, insbesondere von der Psychologie, vielfach erwiesen worden. Es gilt schon als Sprachüblichkeit und Denkeigentümlichkeit, dass Behauptungen - z.B. des eigenen positiven Wertes - sich gegen Negationen, gegen Unwerte abgrenzen. Einige solcher Polaritäten sind uns sehr geläufig, so etwa + und -, gut und böse, wahr und falsch, weiß und schwarz. Diese Wertwelt ist im menschlichen Erleben in mehrere voneinander relativ unabhängige und jeweils polar strukturierte Dimensionen gegliedert. In Faktorenanalysen solcher Bewertungen ergaben sich immer wieder drei Hauptdimensionen, nach denen werthaltige Objekte oder Begriffe mit einem Polaritäten-Profil beurteilt werden können:
1. groß, mächtig (wie der Herrscher) vs. klein, schwach (wie das Kind)
= substantivisch
2. aktiv (im Tätigsein) vs. passiv (im Erleben und Erleiden) = verbal
3. gut (lieb etc.) vs. schlecht (böse etc.) = adjektivisch
"Das Schwarze" ist demnach klar erkennbar nur ein Pol dieses mehrdimensionalen Kontinuums, und selbst dieser eine von sechs Polen ist noch in sich in Einzelaspekte aufzugliedern. Wir sollten auch noch Folgendes bedenken: So wie es beispielsweise in der Intelligenzforschung eine schwach positive Korrelation der Positivitäten gibt (aber kaum ein summum bonum aller Begabungen in einer Person), so gibt es auch in Hinsicht auf charakterliche Qualitäten nur eine schwach positive Korrelation der Positivitäten (kaum ein Mensch ist in jeder Hinsicht charakterlich gut, auch Gott offenbar nicht). Dem entsprechend gibt es auch nur eine schwach positive Korrelation aller seelischen Negativitäten: Zwar sehen sehr dumme Menschen meist auch eher blöd aus, und kranke Menschen sind eher nicht glücklich, aber es gibt Ausnahmen von diesen Regeln. Es soll Genies gegeben haben von beeindruckender Hässlichkeit, und selbst der Teufel hat auch einige wirklich positive Züge. Die voneinander relativ unabhängigen positiven Werte haben außerdem je verschiedene "Schatten", die sogar "Abschattung" und damit Perspektive in das Gesamtbild bringen, und sich keineswegs in einem Schwarzen vereinigen müssen. Auch "das Schwarze" kann also nur plural sein. "Das Schwarze" sollte auch plural sein, sonst würde es zu einem neuen Zentrum und gemeinsamen Grund des Seins werden, zum Mono-Satanismus, der weder schlechter noch besser wäre als der Mono-Theismus. So erweist sich "das Schwarze" von Lorenzen in dieser Ähnlichkeit mit Gott vielleicht als ein letzter, wenn auch besonders origineller Gottesrettungsversuch, und ich riskiere die Prognose, dass auch dieser Rettungsversuch nicht das Scheitern dieses Gottes verhindern kann. Ich hoffe es jedenfalls.
Aus dem Grundtenor der Diskussion ist wohl ersichtlich, dass für mich kaum ein Bruch besteht zwischen dem früher einmal guten Gott (dem "lieben Gott") und dem postmodern bösen Schwarzen. Ich sehe vielmehr vielfältige direkte Übergänge zwischen den verschiedenen Facetten des Monotheos und den wohl gleichermaßen verschiedenen Aspekten des Bösen. Insofern ist "das Schwarze" keineswegs nachmodern, schon gar nicht modern, sondern eher anti-modernistisch und gegenreformatorisch reaktionär. Ohne Kenntnis der Person und der pluralistischen Grundorientierung von Max Lorenzen könnte ich seine Theorie des Schwarzen sogar als einen Versuch sehen, Pluralität wieder aufzuheben, und unter eine nunmehr schwarze Mono-Herrschaft zu zwingen. Die Theorie des Schwarzen wäre damit ein "backlash" und ein Wiederbelebungsversuch. Aber wie kommt der Anarchist und Pluralist Max Lorenzen dazu, sich darin zu engagieren? Ein erster Ansatz zur Beantwortung dieser Frage wäre, dass er dies tut, weil er unter dem Schwarzen gerade so leidet wie viele andere unter Gott. Er beschäftigt sich mit dem Schwarzen als dessen Opfer. Und weiter gefragt: Worin ist dies wiederum begründet?
Damit komme ich zu einem weiteren, für Lorenzen primären Aspekt des Bösen, zu seiner eigenen, sehr persönlichen Erfahrung des Schwarzen, und damit zu etwas, das man nicht so einfach philosophierend auflösen oder gar wegdiskutieren kann. Es wäre auch nicht angemessen, auf die von Lorenzen offen mitgeteilten Ansätze zur Selbstanalyse seiner Erfahrungen des Schwarzen nun mit "psychoanalytischen" Fremddeutungen einzugehen, etwa nach unbewussten Motiven, persönlichen Konflikten und nach der Lebens- bzw. Erlebensgeschichte des Autors selbst zu fragen. Das kann nicht die Aufgabe eines Rezensenten oder Diskussionspartners sein, auch nicht des befreundeten. Stattdessen möchte ich mich in diesem Abschnitt mit dem befassen, was interindividuell, also nicht nur bei Max Lorenzen, sondern bei vielen von uns, mich eingeschlossen, in bestimmten Lebenssituationen an schwarzen Gefühlen aufkommen kann und welche Versuche der Problembearbeitung sich aus unserer religiösen und sogar philosophischen Tradition anbieten. Ich denke, dass Max Lorenzen einige für diesen Versuch wesentliche Materialien zusammengetragen und zur Diskussion gestellt hat, vor allem in Bezug auf die Helden der von ihm analysierten Romane, aber auch im Hinblick auf sein eigenes Erleben.
So können wir nun die Überlegungen, denen Lorenzen nachgegangen ist, wieder mit eigenen Fragen weiterführen, etwa mit der Frage: was war das eigentlich, was die so verschiedenen Aspekte des Bösen - das Numinose, die Kontingenz des Faktischen, die Unwägbarkeit, die Bestrafung von Schuld - im Denken von Lorenzen zu Einem zusammengebunden hat? Und dies entgegen aller empirischen und philosophisch begründbaren Erfahrung, dass auch das Negative plural ist, ganz entsprechend der Pluralität der positiven Werte und des Seins überhaupt. Ich versuche, ein paar Antworten zu finden. Zur Unifizierung des Bösen kann erstens beigetragen haben ein Wiederaufkommen der Überzeugung von der Einzigkeit Gottes, nur eben auf dessen Negatives beschränkt, nachdem sich Gottes Positivität als summum bonum immer mehr als fragwürdig und sogar nichtig erwiesen hat. Das reicht hier aber offenbar nicht aus. Lorenzen selber gibt uns einige Hinweise darüber, was ihn (zusätzlich) bewogen hat, das Böse als Eines nicht nur zu denken, sondern zu erleben: es sind persönliche Erfahrungen und Erinnerungen an traumnahe Bilder und Szenen, die ihn dazu brachten, das Böse in seinem eigenen Leben und schließlich in der Welt vereinigt zu sehen in der Gestalt des "Schwarzen".
Nach Andeutungen auf früheren Seiten beschreibt er auf Seite 32 ausführlich seine "vor kurzem gemachte Erfahrung": "Ich erfuhr, in der Nacht geweckt, durch eine Stimme, die ich nicht vergessen werde, vom Tod, vom Selbstmord einer jungen Frau". Im weiteren Text wird deutlich, wie stark ihn das gefühlsmäßig bewegt hat: "Als ich nun, wieder allein im Zimmer, mich anzog, sah ich plötzlich ein Bild. Links von mir befand sich die junge Frau, die Tote, und sie hatte ... einen verschlossenen Gesichtsausdruck...Und dann stellte sich dieser Eindruck ein ... Der ganze Körper, besonders aber das Gesicht der Frau, war böse ... es war das Böse". Das war das Kernerlebnis, auf das Lorenzen immer wieder zurückkommt. Er beschreibt es in vielen Wendungen: etwas hat sich ihm gezeigt (65), ist ihm begegnet (152), es taucht auf, ... erscheint selber (154), verwandelt sich in die Erscheinung (257), offenbart sich (267). Es sind Worte, mit denen seit jeher das Erscheinen eines Numinosen, die Epiphanie, ausgedrückt wurde, insbesondere das Erscheinen Gottes, die Theophanie.
Was in diesem Erleben auf einmal auftaucht, hat zumindest Bildcharakter: es hat sich zu einem Bild verdichtet (278), ist ihm als Bild entgegengetreten (279). Das Bild kam wieder und immer wieder wird es ihm erscheinen: "bis heute ist das Bild da, und in manchen Augenblicken auch beinahe in der ursprünglichen Stärke" (33). Dieses Bild ist keine bloße Phantasie, sondern etwas, was man sehen (14) kann, das plötzlich vor unser Auge treten kann (257): "Was ich in jener Nacht gesehen habe" (44), "sehe ich, mit einem Blick des Erschreckens" (243), "ich schaue darauf" (227). Das Böse kann aber auch gespürt (32) und empfunden (36) werden: "ich spüre die Anwesenheit von ... dem Bösen" (29), "die räumliche Präsenz, ... das unsichtbare Dasein (von etwas)" (30), "da hält sich das Böse auf" (267), "Ich weiß ja, dort, hinter mir, ist diese Gestalt" (249). Ich selber (H. Sch.) habe keinen Zweifel daran, dass hier die alte Ausdrucksweise angemessen ist: das Böse ist Max Lorenzen leibhaftig erschienen, wie der Leibhaftige. Es war eine Epiphanie des Bösen, des Bösen schlechthin (278).
Was Lorenzen da sah, war insbesondere eine Gestalt des Bösen (14), eine unmögliche (243), gestaltlose (257) Gestalt, ein Wesen, das plötzlich neben ihm auftaucht und schwarz ist (250). Im Nachdenken über dieses Erlebnis differenziert Lorenzen noch genauer. Das Böse ist nicht schon diese Gestalt, sondern erscheint in einer Gestalt, manifestiert sich in ihr: "Ich habe eine Gestalt des Lebens gesehen, der sich das Böse bemächtigt hat ... es hat sich in ihr ausgedrückt" (24), "so erschien hier in der Gestalt der jungen Frau das Dämonische" (34), "mit einem Schlag hat (dieses Wesen) die Gestalt der jungen Frau vereinnahmt" (250), hat die Gestalt einer jungen Frau angenommen (268). So sah Lorenzen "die Neugeburt des Bösen, das in einem furchtbaren Akt der Besitznahme einen Körper dieser Welt sich zu eigen machte" (44), eines Körpers, der nach dieser Aneignung von ihm "besessen" war. Zwar relativiert Lorenzen diese Erfahrung des Bösen nachträglich ("Ich habe eine - nicht die, es gibt keinen Teufel mehr - Gestalt dieses Bösen gesehen", S. 14), aber das sagt ihm nur sein kritischer Verstand. Sein Gefühl sah das Böse jedoch wirklich! Was er da sieht und anspricht, ist nicht abstrakt böse, sondern konkret schwarz, "schwarzgekleidet, tot" (249), "(was dieser Körper) ausdrückte, war das Schwarze" (24).
Unter dem Eindruck ihres nächtlichen und so leibhaftigen Auftretens redet Lorenzen diese Gestalt bzw. das Böse immerhin wie eine bestimmte Person mit "Du" an: "Ich weiß ja, dort, hinter mir, ... du ..., aber ich kann mich dir doch nicht zuwenden, und ich will es auch nicht ... Ich möchte dich ansprechen, deinen Namen sagen oder rufen, aber ich werde es nicht tun, so weit darf ich mich nicht gehen lassen ... War nicht etwas von mir mit dir verbunden? ... Ich möchte nichts denken oder schreiben, was dich verletzen könnte" (249), "Du bist das Böse, du allein, nichts, niemand zwingt dich dazu, da ist keiner, der dich unterdrückt, es gibt keine, gar keine Entschuldigung für dich! ... Was könnte ich tun gegen dich, würde nicht jeder Versuch der Gegenwehr die junge Frau treffen, die du getötet hast?" (250). Und nachträglich fragt er sich: "Mit wem habe ich gesprochen?" (251), und das ist in der Tat unklar, denn war es die junge Frau oder das Böse, mit dem er gesprochen hatte?
Nach den bisherigen Beschreibungen könnte jemand kommentieren: "Wirklich ganz interessant, so etwas im Traum zu sehen!" Aber was Lorenzen erlebt hatte, war kein bloßer Film, schon gar keine philosophisch-metaphysische Spekulation, sondern etwas, was ihn im Innersten "bis ins Mark" (32) erschüttert hatte: "so fährt mir der Schreck in die Glieder ... verdichtet sich zum Entsetzen" (259). Noch nachträglich packt ihn immer noch ein gänzlich unmetaphysisches Grauen, wenn er dieses Bild vor seinem inneren Auge sieht (46/48). Er erfährt "das Unheimliche schlechthin" (26). Dann überfällt ihn ein Schauder (203), ihn erfasst, wie ein Todesbote, das Schaurige (244), ihm offenbart sich etwas so schaurig Grausames (267). Solche Gefühle kann man nicht wegreden und abtun, sie verdienen ernst genommen zu werden.
Insgesamt verdichtet sich der von Lorenzen vorgebrachte Bericht über sein nächtliches Erlebnis zu einer bewegenden Mitteilung über eine einzigartige Erfahrung, die man nur als Erscheinung bezeichnen kann: es geht um die in tiefer Erschütterung erlebte Begegnung mit Einem, das sich als Bild zeigt, in einer Gestalt manifestiert und schließlich als Person erfahren wird, als etwas, das gesehen, angeblickt und in seiner Präsenz gespürt und empfunden werden kann, leibhaftig und gegenwärtig, das spricht und angesprochen werden kann. Kein Zweifel, es war eine Offenbarung, allerdings die eines Bösen und Schwarzen, eine Epiphanie des summum malum, eine Diabolophanie. Nun haben Offenbarungen eine altehrwürdige Tradition, aber sie sind auch in unserer heutigen Zeit im Prinzip weiterhin möglich. Nach Auskunft des "Brockhaus" ist die Epiphanie (griech. "Erscheinung") das unmittelbare Erscheinen einer Gottheit in eigener Gestalt oder in einer besonderen Manifestation. Insbesondere ist die Theophanie ein Erscheinen, Sichtbar- oder Erkennbar-Werden einer (dem Betroffenen bekannten) Gottheit in raum-zeitlicher Begrenzung. In Stammesreligionen verkörpern sich Gottheiten beispielsweise in Medien wie Wasser, Windhauch und Fels, in antiken Religionen manifestieren sie sich in Herrschern, Helden und Priestern; aber auch in Bildern, Dingen und Ereignissen können Gottheiten erscheinen. Die Berufungserlebnisse von Propheten und Religionsgründern sind typische Beispiele für Theophanien (Mose, Jesus, Mohammed u. a.). Im Christentum bildet das Erscheinen Gottes in Jesus Christus ein einmaliges Geschehen. Soweit die Information aus dem Lexikon.
Ich bin versucht zu sagen, dass sich ihm, Lorenzen, das Böse offenbart
hat, so wie andere die Offenbarung eines guten Gottes erlebt haben, subjektiv
völlig überzeugend, ja zwingend evident, dies aber nur für den, der Gleiches
selber erlebt hat. Der Ungläubige, der weder an den guten noch an den
bösen Gott glaubt, sondern sich in der Vielfalt des Seienden umschaut
und sich in ihr zu orientieren versucht, kann auch den Glauben an "das
Schwarze" nicht teilen.
Aber er kann das, was Lorenzen beschrieben hat, mit Anteilnahme lesen
und kann sich vom Autor vermitteln lassen, wie er dazu gekommen ist, das
Schwarze als eines, als Gestalt, und zwar als eine bedrohliche, zu erleben.
Akzeptieren wir also seinen höchst subjektiven, aber durchaus nachvollziehbaren
Erlebnisbericht und lassen wir dabei zu, uns zu erinnern, wenn wir selber
schon einmal Ähnlichem begegnet sind. Religiöse Menschen gehen ja auch
davon aus, dass jeder Mensch Gott erfahren kann, warum nicht auch jeder
einmal "das Schwarze"? Ich jedenfalls bin ihm schon zweimal
begegnet, einmal als Kind, als mir träumte, der Teufel habe mir seine
schlanke Hand gegeben, was ich als ganz angenehm in Erinnerung habe, und
ein anderes Mal als Erwachsener, als ich das fratzenhaft verzerrte Gesicht
einer mir nahestehenden, inzwischen verstorbenen Person vor Augen hatte
und von diesem grässlichen Anblick zutiefst erschreckt worden war.
Vielleicht kann man ja aus solchen Offenbarungen des "Bösen" etwas über die Offenbarungen des summum bonum, des höchsten Guten, also Gottes, lernen. Beide Offenbarungsarten widersprechen gleichermaßen der Pluralität des Seins, aber sie sind auch gleichermaßen subjektiv überzeugend und geradezu zwingend. Wir sollten daher die eine und die andere Art von Offenbarung nicht kritisch abtun, sondern sie mindestens als subjektive Sinnmöglichkeiten akzeptieren. Mir persönlich wäre allerdings die Offenbarung eines pluralen Sinns angenehmer, selbst wenn ich beim plötzlichen Auftreten von sieben numinosen Wesen Schwierigkeiten hätte, sie nebeneinander in ihrem jeweiligen Sosein und in ihrer Verschiedenheit schon klar genug zu erfassen. Aber es muss ja nicht bei einer Offenbarung bleiben, und im Verlauf der Zeit (und im Nacheinander von Träumen oder traumhaften Erlebnissen) könnte ich dann die einen Götter und die anderen Göttinnen allmählich immer besser kennen lernen und ihre plurale Verschiedenheit besser verstehen. Allerdings müsste ich darauf verzichten, alle sieben "über einen Kamm zu scheren", denn das haben Götter und Göttinnen gar nicht gern!
Noch ein weiterer Aspekt des Bösen wird von Lorenzen thematisiert: das Fremde. Es taucht immer dann auf, wenn es angesichts des Bösen darum geht, selber von ihm besessen zu sein, nämlich wie von einem Fremden, das von mir Besitz ergreift und dann in mir ist: "Solchermaßen tritt das Fremde in mich ein" (247), es wandert durch eine Transformation des Ichs in die eigene seelische Struktur ein und blickt mich als gänzlich Fremdes aus den Gestalten meines Ichs (253) und aus meinen eigenen Handlungen an (242). "Nun steckt es in mir und ist zum Fremden geworden" (267), "in meinem Ich kann eine Fremdheit ansteigen, die zugleich ganz von außen und aus den inneren Impulsen meines Lebens kommt" (253), "so bekommt das Fremde einen Willen. Es eignet sich den unsrigen an" (245). Ich selber denke, dass das ganz unproblematisch ist, solange das Fremde einigermaßen gut ist, gut auch zu mir. Aber Lorenzen identifiziert das Fremde mit dem Bösen, mit der Gewalt: "Unsere Ablehnung der Gewalt kann bruchlos in den Willen zu ihr übergehen" (245). Sie kann sich auch gegen uns selber richten: "Der Sog zum Fremden ist suizidal ... Ich selbst bin das, was stirbt ... Im Innersten meines Lebens ... sehe ich meinen Untergang, und in ihm offenbart sich ... mein Tod" (267), bis zur Selbstzerstörung (216). Lorenzen fragt sich, ob uns nur noch bleibt, "uns unrettbar im Schwarzen zu verlieren?", und er antwortet fast bekennerhaft: "Ja, ich glaube, so ist es" (226).
Dagegen wehrt sich etwas in mir, und wie ich annehme, schließlich auch in Lorenzen. Auch er sträubt sich dagegen, in solcher Weise selber vom Bösen besessen zu sein, und wie ich ihn kenne, ist er es auch nicht. Wir sind dem Bösen keineswegs ausgeliefert, denn die fremd gemachten eigenen Gefühle, auch Wut und Hass, kann man sich wieder "aneignen", sie besser verstehen und sie an die Hand nehmen. Und man sollte daher versuchen, dies zu tun. Zuvor aber möchte ich noch ergänzend ausführen, in welcher Weise die Offenbarung des höchsten Guten und die Offenbarung des Bösen auch etwas mit unseren menschlichen Gefühlen, mit Liebe und Hass zu tun haben.
Ein Mensch kann sich geliebt fühlen - wie gut ist dieses Gefühl! -, und er kann sich gehasst fühlen, in der Regel wenn und weil er von jemandem tatsächlich gehasst wird. Das ist ein schlimmes Gefühl, ich kenne es. Aber ebenso wie man selber sich verlieben kann, in eine Person, in ein Bild, sogar in einen Gedanken, so kann man sich auch selber in jemanden oder in etwas "verhassen". Das sind menschliche Möglichkeiten, die bösen ebenso wie die guten, sie können nebeneinander bestehen und einander ablösen. Aber insbesondere der Hass oder das Gefühl des Gehasstwerdens sollten nicht durch Worte oder Bilder festgehalten werden. Es ist besser, wenn man versucht, ein solches Hassbild näher kennen zu lernen, es verstehen zu lernen, um es durchschauen und überwinden zu können. Es muss ja nicht gleich in Liebe umschlagen, das wäre übertrieben. Aber den Hass und die Angst vor dem Gehasstwerden in kritische Distanz und gebührende Vorsicht zu übersetzen, dabei auch ein bisschen Neugierde einfließen zu lassen, das Ganze mit etwas Höflichkeit und Toleranz zu mildern, das wäre wohl wünschenswert.
Ich wies darauf hin, dass Lorenzen sich gegen das Okkupiertwerden durch das Schwarze wehrt. Dafür gibt es viele Belege, im Text verstreut. Lorenzen nimmt das nächtliche Erlebnis nicht einfach hin: "aber ich möchte wenigstens ansatzweise begreifen, wie das zugeht" (226). Dazu trägt bei, dass er sich das Gesehene nachträglich noch einmal vor Augen führt: "Nun habe ich einen Zug des Gesichts der nächtlichen Gestalt erkannt" (79), und er weiß, dass er sich ihm jetzt nähern muss (248). Er versucht auch, sich der Gefühle zu vergewissern, die ihn bei ihrem Anblick bewegt haben: "Die Scham und die Schuldgefühle angesichts des nächtlichen Bildes zeigen mir unabweisbar, dass ich an seinem Erscheinen beteiligt bin" (246). Er geht dem nach, dass er die Gestalt als "verzweifelt, verletzt" erlebt hat (249), und dass seine Erschütterung bei ihrem Anblick nicht so war, "als wenn es sich um mein eigenes Kind gehandelt hätte" (32), und er erinnert sich noch, dass er dann kurz vor dem Zubettgehen eine Idee hatte, vor der es ihm auch grauste (205).
Lorenzen vermutet, dass in diesem Grauen auch noch früher wahrgenommene Bilder aufbewahrt sind (46) und führt sie sich wieder vor Augen: das Bild von dem schönen Mädchen, das im Schutt eingeklemmt nicht mehr gerettet werden kann, und das Bild von dem Erdrutsch (46, 48 ). Er geht Erinnerungen nach und überlegt, ob seine Empfindsamkeit vielleicht verstärkt wurde, weil seine Eltern in einer reizbaren Phase seiner Kindheit abends zu spät von einer Feier heimkehrten (48), und ich ergänze: ihn also allein gelassen hatten, vielleicht allein mit Albträumen, die ein Kind in Angst und Schrecken versetzen können, und bei denen es Zuspruch und beruhigende Präsenz und Nähe der Eltern bräuchte. Lorenzen stellt solche Überlegungen aber auch wieder in Frage: "so wäre der Eindruck jener Nacht eben bloß ein Nachhall gewesen, das Echo von etwas, das verschwindet? Aber dem widerstreitet ganz entschieden mein Eindruck" (50). Aber beides, "Einfälle" und "Widerstände" dagegen, sind typisch für Selbstdeutungsprozesse, wie sie spontan aufkommen können und mit psychoanalytischen Behandlungstechniken auch methodisch unterstützt und therapeutisch genutzt werden können.
Nicht zufällig spielt bei der Freudschen Psychoanalyse die Verarbeitung von Traumerlebnissen eine große Rolle. Lorenzen weiß das natürlich, aber unabhängig von solchem Wissen besteht die Tatsache, dass seine Epiphanie des Bösen sich in einem nächtlichen Traumbild vollzogen hat. Er beginnt seine Beschreibung mit den Worten: "... in der Nacht geweckt (erführ ich)" (32), und er referiert aus Tolstois Buch den Traum der Anna Karenina und kommentiert, dass das Bild des Teufels in diesem Traum etwas Archetypisch-Furchtbares habe (130). In einem späteren Abschnitt seines Buches kommt Lorenzen auf sein eigenes Erleben zurück und fragt sich: "Bin ich in einem Traum? So scheint es mir ..." (249). Dafür spricht auch die Bemerkung, dass das von ihm gesehene Bild "nicht sehr deutlich zu sehen (war) ... auch schien die ganze Gestalt in einer Art Zwischenraum zu schweben, sich also weder in meinem Zimmer, noch anderswo zu befinden, sondern eben "dazwischen" ( 32 ). Es gibt, nicht nur bei Kindern, sondern auch noch bei Erwachsenen, so etwas wie einen noch bis nach dem Aufwachen oder Aufgewecktwerden fortdauernden Albtraum, in dem einer mit offenen Augen seine Umgebung wahrnehmen kann ("die Realität"), und zugleich weiterhin das beängstigende Traumbild vor Augen hat ("die Traumwelt"). So kann jemand mit offenen Augen "schlafwandeln" und dabei für andere vernehmbar, aber inhaltlich nicht ganz verständlich, mit seinen Traumgestalten sprechen. An solche Erfahrungen eines Zwischenreichs zwischen Traum und Realität lassen auch die folgenden Bemerkungen von Lorenzen denken: "Und da war etwas Bekanntes, wie durchdrungen von einem Unpersönlichen...Die Gestalt war sie selbst und etwas ganz anderes" (34), "diese unmögliche Gestalt, die besteht, indem sie nicht besteht" (243).
Lorenzen hat sich somit selber auf die Aufklärung des Dunkels eingerichtet, indem er nämlich sich an frühere Dunkelheiten und Albträume zu erinnern versuchte, indem er Einfällen nachging, die sich im Kontext dunkler Gegebenheiten meldeten, indem er sich Ahnungen erlaubte über das, was ihn zuvor - völlig ahnungslos - überrascht hatte, und indem er sich fragte, ob er in irgendeiner Weise am Erscheinen des nächtlichen Bildes (ursächlich oder motivational) beteiligt war. Solche Selbstklärungsversuche sollten nicht besserwisserisch psychoanalytisch kommentiert werden. Bei aller möglichen Selbstverborgenheit ist sich doch der Träumer selber näher, als irgendein noch so kundiger externer Beobachter ihm nahe sein kann. Denn der Traum selber ist schon der Beginn eines Selbstklärungsprozesses. Zwar kann dem Träumer sein Traum zunächst noch als ein Problem erscheinen, das der Klärung bedarf, aber der Träumer kann nachträglich verstehen lernen, dass mit dem Traum (auch mit der Erscheinung oder Offenbarung) schon ein Problemlösungsversuch angesetzt hatte. Denn eine Frage zu stellen heißt, ihrer Beantwortung schon ein Stück näher gekommen zu sein. Das gilt wohl auch für die traumhaften Erfahrungen von Lorenzen: sein albtraumhaft-erschreckendes Erleben des Schwarzen ist schon der Beginn einer Auseinandersetzung mit dem "Bösen" in sich selbst und mit dem Bösen in der Welt, das dem vorausgegangen war und in ihm internalisiert worden ist. Kürzer: Wer das Schwarze träumt, geht schon mit ihm um! Träume sind selber schon Selbstdeutungsversuche.
Während also Träume (auch schwarze!) ein neues Fragen eröffnen können, besteht bei Begrifflichkeiten wie "Gott" oder "das Schwarze" die Gefahr, dass sie dem Fragen ein vorzeitiges Ende setzen, weil sie nämlich vorgeben, schon die Antwort zu sein, und der Glaube an sie mache alles Weiterfragen überflüssig. Gott und der Teufel aber halten Probleme eher fest, als sie zu lösen! Insbesondere das eine Schwarze verknotet die Übel zu einem Wooling-Stek (das ist der seemännische Fachausdruck für einen faktisch unlösbaren "Knoten aller Knoten"!) des Bösen, des summum malum. So ist die Verdunkelung der vielen Negativitäten unserer Welt zu einem Schwarzen dazu angetan, die am einzelnen Übel ansetzende Aufklärung zu erschweren.
In diesem Zusammenhang erscheint es mir als nützlich, an einen Begriff zu erinnern, den der Zoologe Erich von Holst geprägt hat. Er unterschied zwischen den in der Forschung üblichen Arbeitshypothesen, die zu ihrer eigenen Überprüfung einladen, und den von ihm so genannten "Beruhigungshypothesen", die nicht das Problem klären, sondern nur den Zweifel und das Fragen beruhigen, den kritisch Fragenden besänftigen und einlullen sollen. Sie sind also beruhigend nur in dem Sinne, dass mit der Formulierung vager und zugleich wohltönender Begriffe die Ruhe des Glaubens einkehrt. Aber insbesondere gegenüber dem Bösen, ich meine damit natürlich: gegenüber all den verschiedenen Arten, schlimm oder schlecht oder böse oder falsch oder verlogen oder machtlüstern oder grausam zu sein, brauchen wir kritische Arbeitshypothesen, nämlich Zweifel und Fragen, und zugleich konstruktive Klärungsansätze, die das Dunkel erhellen und eine neue und zugleich bessere Orientierung verschaffen. Auch Träume können dazu beitragen, wenn man sie nicht als endgültig alle Fragen beantwortende Offenbarung, sondern als offene Fragen nimmt und sich um die Lösung der darin implizierten Probleme bemüht.
Auf diesem Wege kann statt der verzweifelten Abwehr des Fremden in mir,
statt des Zudeckens der Probleme mit Bildern und Begriffen, allmählich
die Einsicht aufkommen, dass "das Fremde" vielleicht nur ein
Anderes und zugleich Neues ist, das zum Fremden und Bösen diffamiert worden
ist, also schlecht gemacht durch jemanden, der Anderes und Neues nicht
gut ertragen kann. Ein Fremder hat da versucht, mein Eigenes, auch meine
eigene Wut und meinen Hass mir fremd zu machen, so dass ich nicht mehr
zu diesen Gefühlen stehen und sie äußern kann. Dann kann auch der eigene
Suizid ein verzweifelter Versuch sein, die von einer verinnerlichten Autorität
angedrohte Strafe in vorauseilendem Gehorsam selber zu vollziehen.
Mit solcher Einsicht kann sich auch die Beziehung zwischen dem Eigenen
und dem Fremden neu ordnen: das als "mein eigenes" vermeinte
Gewissen erweist sich dann als die verinnerlichte Autorität eines ursprünglich
Fremden, und im Unterschied dazu erweisen sich die mir als seltsam fremd
erscheinenden Impulse von Wut, Hass und Aggressivität schließlich als
meine eigenen Gefühle, die mir fremd gemacht, entfremdet worden waren.
Am Ende dieser Diskussion möchte ich an den Ausgangspunkt und den Verlauf
der Überlegungen erinnern, die das Buch von Max Lorenzen über das Schwarze
in mir angeregt hatte. Da ging es zunächst recht theoretisch um die pluralistische
Grundposition des Autors und darauf folgend um Abstrakta wie das Numinose,
die Kontingenz und das Unwägbare. Später wurde es konkreter in der Frage
nach der Abfolge von Glück, Schuld und Strafe, es ging um das Tückische,
um das verführerisch-ansprüchliche Weib und um das Schwarze. Schließlich
diskutierte ich die Tendenz von Lorenzen, all dies als das Böse, schließlich
als ein summum malum zu verstehen. Diesem in meiner Sicht sehr originellen
Gottesrettungsversuch setzte ich die Pluralität des Bösen entgegen. Aber
es blieb die Frage, was den Pluralisten Lorenzen zur Unifizierung des
Bösen veranlasst hatte. Es stellte sich heraus, dass es sehr persönliche,
traumhafte Erlebnisse waren, die als Epiphanie des Bösen bis zur Besessenheit
vom Fremden charakterisiert werden konnten. Max Lorenzen hat es in seiner
Offenheit und Redlichkeit riskiert, seinen Lesern (und auch sich selbst)
die dunklen Hintergründe der Theorie des Bösen zugänglich zu machen. Er
hat damit ansatzweise Möglichkeiten eröffnet, ein solches Dunkel zu erhellen.
Ich habe Respekt vor dieser Leistung, und dieser Respekt wird hoffentlich
auch darin ersichtlich, welche Mühe ich mir gegeben habe, seinen Essay
meinem eigenen Denken anzuverwandeln und in dieser Interpretation, aber
zugleich auch, so gut ich konnte, im Sinne und in der Sicht des Autors,
anderen Lesern weiterzuvermitteln.